Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
schaute ihre Schwester traurig an. Sie fühlte sich unendlich müde. Seit fünf Uhr morgens war sie mit der Kresse unterwegs gewesen und hatte doch nur ein paar Pence eingenommen. Das Geld würde für die Miete beiseitegelegt werden müssen, und nun musste sie entscheiden, ob sie morgen neue Kresse kaufen sollte oder lieber heute Abend etwas zu essen. »Wofür hat Billy Pope dir Geld gegeben?«
Lily tat, was sie immer tat, wenn ihr die Dinge irgendwie zu kompliziert wurden: Sie brach in Tränen aus.
»Lily! Es war doch hoffentlich nichts Unrechtes?«
»Nein, war es gar nicht. Da war ein Hündchen, weißt du, und ein Mann hatte es an der Leine, dem es gar nicht gehörte, und die Pope-Jungen wollten es dem echten Besitzer zurückgeben und dafür eine Belohnung bekommen.«
»Aber was hast du dabei gemacht?«
»Ich hab nur dem Mann das Hündchen weggenommen, der es gestohlen hatte!« Lily zog die Nase hoch. »Ich habe bloß die Leine durchgeschnitten und –«
»Du hast es gestohlen!«
»Ja, aber –«
»Lily, ich hab dir das doch schon mal gesagt: Es gibt viele gemeine Diebe da draußen. Die stehlen auf der Straße einen Hund und warten darauf, dass der Besitzer eine Anzeige in die Zeitung setzt und eine Belohnung verspricht.«
»Und dann?«, fragte Lily bedrückt.
»Dann bringen sie ihm den Hund und behaupten, dass sie ihn aufgelesen haben, als er herrenlos auf der Straße herumlief. Und der Besitzer ist meistens so froh darüber, seinen Hund wiederzuhaben, dass er nicht groß Fragen stellt.« Sie ging zum Fenster, um sich die Münze genauer anzusehen. »Jedenfalls ist das hier bloß ein Halfpenny, der silbern angestrichen wurde – und noch nicht mal besonders gut. Haben sie dir den dafür gegeben?«
Lily nickte.
»Die werde ich mir vorknöpfen. Wenn jemand dich ertappt und festgehalten hätte, dann hätte dich womöglich die Polizei abgeholt. Dann wärst du von mir getrennt worden, ist dir das denn nicht klar?«
Lily ließ den Kopf hängen und machte ein beschämtes Gesicht, doch innerlich fühlte sie sich erleichtert. Es war also nicht ihre Schuld gewesen. Eswaren diese Pope-Jungen, auf die war Grace böse, nicht auf sie.
Grace zog ihr Umhängetuch fester um sich, streifte ihren Rock glatt und ging aus dem Zimmer, so aufgewühlt war sie. Doch sie war noch keine fünf Schritte den Flur entlanggegangen, als sie noch einmal nachdachte: Sie müsste es ganz allein mit sechs Pope-Jungen aufnehmen, und da würde sie zwangsläufig den Kürzeren ziehen. Sie ließ sich auf die unterste Treppenstufe sinken. Vielleicht war es ja ihre eigene Schuld. Lily war nun mal leichte Beute für jeden, und eigentlich hätte sie sie gar nicht alleine zum Flaschensammeln losziehen lassen dürfen. Schon als sie noch ganz klein waren, hatte Mama ihr immer eingeschärft, dass sie, Grace, sich als die ältere Schwester betrachten müsse und nicht als die jüngere. »Lily wird wohl immer ein Kind bleiben, fürchte ich«, hatte Mama mehr als einmal gesagt, »und es wird an dir sein, Grace, sie davor zu beschützen, dass andere Leute sie ausnutzen.«
Grace fing an zu weinen. Sie hatte Mama enttäuscht, sie hatte Lily hängen lassen, die Saison für Kresse war vorbei, sie hatten fast nichts mehr übrig, was sie noch hätten versetzen können, und der Winter stand vor der Tür. Was sollte bloß aus ihnen werden?
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Kapitel 10
Als die Beales am nächsten Morgen Mrs Macreadys Mietshaus verließen, schenkte Mrs Beale Grace ihr zerschlissenes Schultertuch und die Schürze, denn man hatte ihnen gesagt, dass sie im Arbeitshaus nichts Eigenes würden behalten dürfen. Selbst ihre Kleider würde man ihnen abnehmen, und nachdem sie mit dem Wasserschlauch abgespritzt worden wären, bekämen sie grobe Arbeitshauskleider aus Sackleinen mit einer Nummer auf dem Rücken.
Trotz des zerfledderten Zustands der beiden Kleidungsstücke konnte Grace auf einem Lumpenmarkt noch einen Penny dafür ergattern, und davon, zusammen mit dem bemalten Halfpenny, ein großesBüschel Brunnenkresse kaufen (wenn auch schon etwas vergilbt, daher der günstige Preis). Sie zerteilte es in fünf kleine Bunde und schaffte es, sie für je einen Penny zu verkaufen. Mit dem Geld machten
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