Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
Mädchen noch besessen hatten, waren verschwunden. Nur die beiden kleinen weißen Visitenkärtchen auf dem Kaminsims schimmerten hell in der Dunkelheit.
»Wo sollen wir denn jetzt hin?«, fragte Lily und schaute hoffnungsvoll ihre Schwester an, während sie der Strand folgten, die von der Innenstadt zum Stadtteil Westminster hinausführte. Lily hatte zu weinen aufgehört, nachdem Grace ihr versichert hatte (
versprochen
, genauer gesagt, denn das war das einzige Wort, das Lilys Tränen zum Versiegen bringen konnte), dass alles bald wieder in Ordnung käme.
»Wir werden einen jungen Herrn aufsuchen, den ich kenne, Mr James Solent«, sagte Grace. »Er ist einMann des Rechts und sehr clever, und er wird uns helfen.«
James Solent, Susannah Solent
… Als Grace im Geiste diese Verbindung herstellte, krampfte sich ihr Herz zusammen. Mein Baby ruht friedlich bei Susannah Solent, sagte sie sich. Doch der Gedanke tröstete sie nicht, sondern löste in ihr erst recht das Bedürfnis aus, zu schluchzen und zu schreien und sich die Kleider zu zerreißen. In ihrem Leben lief einfach alles schief.
Als sie den Beginn der Fleet Street erreicht hatten und die eleganten Türmchen, Giebel und Zinnen des Justizpalasts, der
Royal Courts of Justice
, in Sicht kamen, warf Grace erneut einen Blick auf das Kärtchen in ihrer Hand, fasste sich schließlich ein Herz und sprach einen der livrierten Pförtner an. Auf ihre Frage nach Moriarity Chambers wies er ihr den Weg quer über die Straße und durch einen Torbogen hindurch. An dem Torbogen wurden sie von einem weiteren Mann in Livree gefragt, wohin sie wollten. Grace hielt ihm die Visitenkarte hin, doch in diesem Augenblick fuhr eine kleine Mietkutsche mit lautem Geklapper heran, woraufhin der Pförtner sie durchwinkte, ohne die Karte auch nur gelesen zu haben.
Hinter dem Torbogen öffnete sich eine ganz andere, weitaus vornehmere Welt: Eine gepflasterte Straße führte auf eine weitläufige, parkartige, mit Gras und Bäumen bewachsene Fläche; in der Ferne schimmerte das graue Band der Themse. Männer desRechts in schwarzen Talaren und weißen Kragen, manche auch mit grauen Lockenperücken, gingen geschäftig einher. Manche trugen Akten unterm Arm, andere zogen gar ein mit Papierstößen beladenes Wägelchen hinter sich her, und so eilig wie sie es alle hatten, würdigte keiner von ihnen die beiden Mädchen auch nur eines Blickes.
Lily schaute sich staunend um und genoss den ungewohnten Anblick und die friedliche Atmosphäre, die hier herrschte. »Ist Mr Solent einer von diesen lustigen Männern mit Perücke?«, fragte sie.
»Ich weiß nicht«, gab Grace zurück. War er das? Vor allem aber, würde er ihnen helfen? Ja, würde er sich überhaupt an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, erinnern?
Rund um die parkartige Fläche befanden sich großzügig angeordnete, elegante Gebäude, und als Grace näher kam, erkannte sie, dass oberhalb der von Torbogen überwölbten Eingänge Namen standen. Moriarty Chambers war das letzte in einer Reihe von sechs Häusern, deren hohe Fenster auf den Fluss hinabblickten.
»Glaubst du, das waren die Pope-Jungen, die unsere Sachen mitgenommen haben?«, fragte Lily schwatzhaft, während Grace sich darauf vorbereitete, an der Tür zu klopfen. »Ich wette, die waren das, weil einmal, als ich Matthew in unser Zimmer gelassen habe, da hat er die ganze Zeit meine Muschel angeschaut und gesagt, dass er die gerne hätte.«
Grace ersparte es sich, Lily darauf hinzuweisen, dass sie sie schon immer vor den Popes gewarnt hatte und dass Lily die Jungen niemals in ihr Zimmer hätte lassen dürfen. Das spielte nun alles keine Rolle mehr. Sie waren kurz davor, in der Gosse zu landen, und wenn James Solent ihnen nicht helfen konnte, dann hatte sie keine Ahnung, was sie noch tun sollte.
Sie stieg die paar Stufen zur Eingangstür des großen Hauses hinauf und zog an der Klingel.
Nichts rührte sich.
»Klingel noch mal!«, rief Lily von der Straße hinauf. »Darf ich diesmal klingeln?«
Grace überging ihre Frage und zog nach einer angemessenen Pause erneut an der Schnur. Zweimal. Schließlich wurde die Tür von einem älteren Mann in einem Nadelstreifenanzug geöffnet.
»Ja?«, fragte er und mustere Grace mit gerunzelter Stirn. Es war nicht üblich, dass Frauen das geheiligte Areal der »Inns of Court« betraten, wie der Gebäudekomplex hieß, der die Anwaltskanzleien und Quartiere der Londoner Juristenschulen beherbergte. Erst kürzlich waren zwei
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