Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
ein altes Lagerhaus direkt an der Themse. Die löchrigen Bretterzäune mit abblätternden Fetzen von Werbeplakaten darauf, die Scherben und der Unrat auf den Straßen und das Geschrei der Raben und Möwen über ihren Köpfen machten die Gegend noch unwirtlicher und trostloser als selbst Seven Dials, doch Grace war entschlossen, weiterzugehen, denn irgendwo mussten sie schließlich schlafen. Das Lagerhaus entpuppte sich als ein wackliges Bauwerk aus Wellblech. Tagsüber wurden hier im Erdgeschoss Tierknochen zu Leim verkocht, und der übelkeitserregende Gestank hing im ganzen ersten Stock, wo man für zwei Pence pro Nacht in kleinen, nur mit Vorhängen notdürftig abgeteilten Parzellen schlafen konnte.
Während die zuständige Frau ihnen ihr »Zimmer« zeigte, fragte Grace, ob sie vielleicht von irgendeiner Arbeitsmöglichkeit in der Gegend wisse.
Die Frau schüttelte den Kopf und lachte bitter. »Glaubst du, ich würde das nicht selber machen, wenn ich was wüsste?«
»Gibt es denn wirklich rein gar nichts? Meine Schwester und ich können hart arbeiten«, fuhr Grace fort. »Gibt es denn in den Lagerhäusern nicht Arbeit beim Verpacken?«
»Nicht für unsereins«, entgegnete die Frau. »Wenn es da Arbeit gibt, dann geht sie an die Männer, weil die Familien zu unterhalten haben. Die einzige Arbeit für Frauen hier in der Gegend ist die altbekannte.«
»Was ist das?«, fragte Lily neugierig, doch die Frau lachte bloß und antwortete mit einer vulgären Handbewegung.
Viele der Schlafplätze waren bereits von denen belegt, die fest hier wohnten, hauptsächlich Fährmänner. Die Nachbarn der beiden Mädchen waren ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern auf der einen Seite und drei kräftige Hafenarbeiter auf der anderen. Nachdem die drei Männer ins nächste Wirtshaus aufgebrochen waren, sanken die beiden Mädchen vor erschöpfung sofort in Schlaf. Irgendwann nach Mitternacht kehrten die Hafenarbeiter in wesentlich ramponierterem Zustand als bei ihrem Aufbruch wieder zurück, grölten herum, stolperten und polterten durch die Gegend und weckten nicht nur das Paar mit den kleinen Kindern auf, sondern die ganze Etage. Der Ehemann und Familienvater fing eine Schlägerei mit ihnen an, die Kinder weinten, die Frau schrie, und Grace und Lily klammerten sich hinter ihrem Vorhang angstvoll aneinander und wagten nicht, sich zu rühren.
Gegen ein Uhr nachts schienen fast alle auf der Etage auf die eine oder andere Weise in die Schlägerei mit den Hafenarbeitern hineingezogen zu sein, und um zwei ging jemand einen Polizisten holen. Bald war die Ordnung wiederhergestellt, denn inzwischen waren die Hafenarbeiter in trunkene Bewusstlosigkeit versunken, und Grace und Lily sanken in einen unruhigen Schlaf. Als sie um sechs Uhr morgens vomEntzünden der Siedekessel und dem Lärm der Arbeiter unten im Erdgeschoss erwachten, mussten sie feststellen, dass ihr letzter Penny aus Graces Tasche entwendet und ihnen die Schuhe von den Füßen gestohlen worden waren.
UNWIN BESTATTUNGSUNTERNEHMEN,
MAPLE MEWS, MARBLE ARCH, LONDON
Wir offerieren respektvoll unsere Dienste dem Hochadel, niederen Adel und der allgemeinen Öffentlichkeit. Wir sind ein Familienunternehmen und bieten bis zu achtspännige Trauerkutschen sowie Sargbegleiter, Federnträger, Blumen und Gebinde, Trauerschmuck und Gedenkkarten.
Beerdigungen werden mit äußerster Sorgfalt, Respekt und Rücksicht auf den öffentlichen Anstand durchgeführt.
Kapitel 11
»Also, heute Morgen gibt es ein Seven-Dials-Frühstück«, sagte Grace zu ihrer Schwester, als sie wenig später am Flussufer saßen. Auf dem Fluss wimmelte es von qualmenden Dampfbooten, und in der Luft lag ein Gestank von heißem Öl, verkochten Tierkadavern und irgendetwas noch Unangenehmerem, denn nicht weit von hier befand sich eine Gerberei, in der Tierhäute mit frischem Dung behandelt wurden.
»Ein Seven-Dials-Frühstück? Was ist das?«, fragte Lily gespannt.
»Nur ein Scherz«, sagte Grace. »Es bedeutet ›nichts‹. Überhaupt nichts.«
»Aber wie kann es denn dann ein Frühstück sein? Das verstehe ich nicht.«
Grace drückte ihrer Schwester die Hand. »Das sagt man nur so, Lily. Es soll ein Scherz sein.«
»Mir wäre es lieber, wenn es ein Frühstück wäre.«
Grace seufzte und ließ den Blick auf die tuckernden, keuchenden Boote und die Rauchschwaden über dem Wasser hinausschweifen. Sie spielte mit der schwarz umrandeten Visitenkarte in ihrer Tasche herum, die die Adresse des Bestattungsunternehmens
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