Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
verantwortungsvoller Bestattungsunternehmer verletzen, wenn ich zuließe, dass Sie irgendetwas Geringeres als polierte Eiche wählen.«
»Ach Gott, nun denn, vielleicht … «
Grace, die dies alles mit anhörte, wusste nicht, ob sie über George Unwins Verschlagenheit laut losschimpfen oder seine Cleverness bewundern sollte.
Da heute keine Beerdigung anstand, hatte sie erneut an einer Brosche aus menschlichem Haar gestickt (diesmal in Form eines Lorbeerkranzes auf Seide), bis Mrs Unwin ihr aufgetragen hatte, Hut und Trauerbänder anzulegen und in Trauerpose im roten Salon zu warten. Als die Unwins nun mit der Witwe in den anderen Raum gingen, um die Frage nach dem Holz zu klären, nahm Grace die Gelegenheit wahr, sich gründlich im roten Salon umzusehen, den sie ansonsten nur selten betreten durfte. Sie sah einen massivenMahagonischreibtisch, ein paar lederbezogene Stühle und einen hohen Schrank, der ein wenig offen stand. An der Wand über dem Schreibtisch hingen zwei regale, eines dicht gefüllt mit Akten, auf denen die Namen der Kunden von vergangenen Begräbnissen standen, das andere mit Zeitschriften zum Bestattungswesen sowie mehreren Bibeln. Den Schreibtisch zierten Brieföffner, Tintenfass und fünf Holzfächer, in denen die Unterlagen zu bevorstehenden Begräbnissen lagen. Es gab keinerlei Hinweis auf einen großangelegten Plan, Lily Parkes um ihr Erbe zu betrügen. Genau genommen erschien das Ganze, im kalten Licht eines Londoner Nachmittags betrachtet, als zu absurd, um wahr zu sein.
Grace grübelte zuerst darüber nach, verbrachte dann weitere zehn Minuten damit, sich still um Lily zu sorgen, und schließlich kehrten die Unwins mit der niedergeschlagen wirkenden Witwe wieder in den Salon zurück.
»Wenn Sie lieber eine Kutsche als den Zug nehmen möchten, dann würden zwei Pferde für die Kutsche allerdings ein wenig kümmerlich wirken«, sagte Mrs Unwin gerade. »Das würde – verzeihen Sie, wenn ich so frei bin – doch eine gewisse Gleichgültigkeit der Hinterbliebenen gegenüber dem Verstorbenen zum Ausdruck bringen.«
Die Witwe protestierte murmelnd.
»Letztes Jahr hat eine Witwe aus Ihrer Straße ihren Gatten in einer von vier edlen Pferden gezogenenKutsche ins Paradies geleiten lassen. Mit ihren Federbüschen und wehenden Mähnen verliehen sie dem Leichenzug eine höchst festliche Note, nicht wahr, Mr Unwin?«
»Vollkommen! Denn sie symbolisierten die große Liebe, die die Frau ihrem verstorbenen Gatten entgegenbrachte.«
»Oh Gott, nun denn. Wenn Sie wirklich meinen … «, lenkte die Witwe ein.
Mrs Unwin drehte sich zu Grace um. »Und wo wir gerade beim Trauerzug sind«, fuhr sie fort. »Haben Sie schon an Sargbegleiter gedacht?«
Grace atmete sacht ein und stand wie eine Wachspuppe mit gefalteten Händen da.
»Habe ich nicht«, erwiderte die Witwe. »Mir war nicht klar, dass so etwas notwendig sein könnte.«
»Sargbegleiter sind bei Bestattungen der gehobenen Gesellschaft höchst gefragt«, führte Mrs Unwin aus. »Sie können Umhang und Kapuze tragen oder so wie Grace gerade einen schwarzen Hut und herabhängende Bänder – die Bänder symbolisieren die vergossenen Tränen.«
»Verstehe«, sagte die Witwe und starrte Grace kummervoll an. »Aber ich denke doch … «
»Für gewöhnlich bucht man ein Paar davon«, fuhr Mr Unwin geschmeidig fort. »Rechts und links von einem Portal wirkt das sehr tragisch. Ich denke, Sie stimmen mir zu, dass Grace hier ein zutiefst herzzerreißendes Gesicht hat.«
Die Witwe seufzte tief und schnäuzte sich in ein schwarz eingefasstes Taschentuch, gab jedoch ihre Einwilligung zu zwei Sargbegleiterinnen. Grace wartete darauf, nun entlassen zu werden, da sie noch an der Brosche zu arbeiten hatte und diese gerne noch bei Tageslicht fertigbekommen wollte. Die Witwe wurde zur Haustür begleitet, und Rose hatte die Tür kaum hinter sich geschlossen, als plötzlich ein kräftiges Klopfen ertönte.
Rose öffnete erneut die Tür und setzte zu einer höflichen Begrüßung an, kam jedoch nicht dazu, denn der Besucher war Sylvester Unwin höchstpersönlich, der sofort in die Diele stürzte und im roten Salon erschien.
»Ich habe es, George!«, rief er und hielt dabei einen braunen Umschlag hoch. »Worauf wir gewartet haben!«
Grace wurde heiß und kalt. Das war die Urkunde. Sie musste es sein.
Grace wurde sogleich entlassen, doch anstatt in das kleine Nähzimmer zurückzukehren, blieb sie in dem schmalen Korridor stehen, der
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