Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
Pfund, hatte ihm jemand gesagt. Ein anderer hatte von hundertfünfzigtausend gesprochen. Selbst wenn er mit seinem Cousin halbe-halbe machte, wäre das noch eine enorme Summe. Ausreichend für ein neues Trauerbekleidungsgeschäft in einer der großen Industriestädte, Manchester oder Birmingham vielleicht …
Beim Gedanken an die zu erwartende Summe und das Mittel, durch das sie sie erlangen würden, wandte er sich plötzlich zum Schreibtisch um, wo der Brieflag. Er starrte den Umschlag ein paar Sekunden lang an, dann schob er sich auf seinem Stuhl, der über Rollen verfügte, ein Stück näher an den Tisch heran und streckte die Hand danach aus.
Grace erstarrte das Blut in den Adern.
Er schaute hinein, stutzte, schaute noch einmal und stieß, fassungslos, einen Fluch aus. Er warf den Umschlag zu Boden und erging sich in den wildesten Verwünschungen. Er suchte den Boden ab, zog Schreibtischschubladen auf und rannte schließlich, wüste Flüche und Schimpfwörter ausstoßend, aus dem Zimmer.
Grace zögerte keine Sekunde. Sie schlüpfte aus dem Schrank, verließ den roten Salon und kehrte in das kleine Nähzimmer zurück, das jetzt leer war. Sie nahm ihre Stickerei wieder zur Hand und saß einen Moment ganz still, während ihr Verstand damit kämpfte, das Ausmaß dessen zu verarbeiten, was sie eben gesehen und entdeckt hatte.
Er war es also gewesen. Natürlich! Hatte sie das nicht die ganze Zeit schon gespürt? Er war jene Gestalt in der Kirche bei der Beerdigung des hohen Würdenträgers gewesen, jener Mann, dessen Präsenz ein Frösteln in ihr ausgelöst hatte. Und in seinem Geschäft – sie hatte ihn zwar nicht direkt wiedererkannt, doch etwas tief in ihrem Inneren hatte sich an das Entsetzen erinnert, das seine Gegenwart auslöste. Der Geruch von scharfem Tabak und parfümierter Haarpomade war seiner gewesen. Diese Aura des Bösen war seine …
Grace vernahm Geschrei irgendwo in der Tiefe des Gebäudes. Rasch bückte sie sich über ihre Stickerei und hörte, wie das Papier unter ihrem Mieder knisterte. Die Urkunde! Sie musste sie so schnell wie möglich loswerden. Aber wohin damit?
Das Feuer wäre die beste Lösung, aber da es schon auf den Abend zuging, glommen nur noch drei kümmerliche Kohlen im Kamin – es fehlte die Flamme, die das dicke Papier rasch zu Asche verbrannt hätte. Außerdem wäre es doch sicherlich besser, sie aufzuheben – um sie als Fälschung enttarnen zu lassen. Vielleicht in ihrem Zimmer, unter der Matratze? Grace erhob sich bereits, setzte sich jedoch im nächsten Augenblick wieder hin. Ganz bestimmt würden die Unwins die Zimmer der Angestellten durchsuchen lassen – und das von Lilys Schwester als Allererstes. Sie würden überall suchen. Doch dann fiel ihr eine mögliche Ausnahme ein: Ob sie wohl in »Gottes Wartesaal« suchen würden?
Sofort eilte sie die Steinstufen vom Nähzimmer in den kühlen Kellerraum hinunter, in dem an diesem Tag die beiden Leichname der Herren Truscot-Divine und Mayhew aufgebahrt lagen, um am nächsten Tag beerdigt zu werden. Sie waren fertig vorbereitet für die Feierlichkeiten, lagen in ihrem besten Anzug im Sarg, die Arme fein säuberlich über der Brust verschränkt. Die Sargdeckel waren nur lose aufgelegt. Diese wurden, wie Grace wusste, erst unmittelbar vor der Beerdigung zugenagelt.
In der Leichenhalle war es eiskalt. Eine Kerze brannte flackernd und in der Feuchtigkeit zischend in einem Halter aus Zinn und warf zitternde Schatten. Grace ließ sich jedoch von der unheimlichen, morbiden Atmosphäre nicht schrecken. Sie ging zum erstbesten Sarg – es war der von Mr Truscot-Divine –, hob den Deckel an und schob die Urkunde unter die Sargmatratze. Unwillkürlich musste sie an das andere Mal denken, als sie so etwas getan hatte: die traurige Grabbeigabe, die sie vor gut sechs Monaten in jenem anderen Sarg an anderem Ort hinterlassen hatte. Wie seltsam, dass jener Moment so unauflöslich mit diesem hier verquickt war …
Doch dies war nicht der Augenblick für Erinnerungen. Ihre Röcke anhebend, eilte Grace wieder die Treppe hinauf ins Nähzimmer. Sie vernahm aufgeregte Stimmen aus dem roten Salon – die beiden Unwin-Cousins und Rose, die sich weinend verteidigte und heftig dementierte – und entschied, dass es vielleicht klug wäre, zu Mrs Unwin zu gehen und sich durch ein Gespräch mit ihr ein gewisses Alibi zu verschaffen. Sie fand die Dame des Hauses in Begleitung von Jane und zwei anderen Mädchen in einem der
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