Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
Werkräume, wo sie Kränze aus Wachsblumen banden.
Grace knickste kurz. In den vergangenen Tagen hatte es sie enorme Mühe gekostet, ihren Hass auf die Unwin-Familie zu verbergen und ihnen gegenüber weiterhin einen höflichen, ehrerbietigen Ton anzuschlagen,doch jetzt, nach allem, was sie über Sylvester Unwin herausgefunden hatte, musste sie schon darum ringen, halbwegs normal zu klingen.
»Ich bin fast fertig mit dem Lorbeerkranz, Madam, und wusste nicht, ob ich als Nächstes mit der Stickerei für das Kissen beginnen soll«, sagte sie und hielt die neue Handarbeit hoch, die sie aus dem Korb mitgenommen hatte. »Oder möchten Sie, dass ich etwas anderes anfange?«
Mrs Unwin schenkte Grace ein falsches Lächeln aus lauter Zähnen und Zahnfleisch, denn auch sie hatte Mühe, sich angesichts des gewaltigen Täuschungsmanövers, in das sie verwickelt war, ganz normal zu geben. »Nimm dir irgendeine Arbeit aus dem Korb, Grace«, sagte sie. »Wie ging es denn mit dem Lorbeerkranz?«
»Sehr gut, Madam«, sagte Grace demutsvoll. »Möchten Sie die Arbeit sehen?«
»Gerne. Du stickst so außerordentlich fein – ein paar der Mädchen sollten sich an dir ein Beispiel nehmen.«
»Vielen Dank, Madam«, sagte Grace, während die anderen Mädchen ihr finstere Blicke zuwarfen. »Dann hole ich es schnell.«
Der winzige gestickte Lorbeerkranz wurde geholt, in Augenschein genommen und den anderen Mädchen gezeigt – und dann abrupt wieder Grace hingestreckt, als ein gänzlich außer sich geratener George Unwin die Tür aufstieß.
»Es ist weg!«, schrie er seine Frau an.
Mrs Unwin fuhr herum und starrte ihn entgeistert an. »Was ist weg?«
»Das Dokument! Was denn sonst?«
»Aber ich habe es doch noch vor einer halben Stunde mit eigenen Augen gesehen. Wie kann es da weg sein?«
»Was weiß ich, wie es das
kann
, jedenfalls
ist
es weg.«
Mrs Unwin besann sich plötzlich darauf, wo sie waren und dass Diskretion ihr Motto war. »Nicht vor den Mädchen, besonders –« Sie brach ab. »Gehen wir in den roten Salon.«
Mr Unwin verschwand und Mrs Unwin folgte ihm schweigend und bestürzt. In letzter Zeit hatte sie an nichts anderes mehr denken können als an die Erbschaft, die es ihnen ermöglichen würde (so ihr jüngster Entschluss), sich in eine Villa am Meer in Brighton zurückzuziehen. Sie hatte genug vom Bestattungsgewerbe: davon, ständig Betroffenheit heucheln zu müssen, Mitgefühl zu äußern, obwohl sie keines verspürte, Interesse vorzutäuschen, wenn die Leute sich ewig nicht entscheiden konnten, ob es denn nun rote Rosen oder rosarote Nelken für den Kranz sein sollten, wo das doch sowieso vollkommen egal war. Manchmal musste sie sich richtig zusammennehmen, um nicht den trauernden Angehörigen eines Verstorbenen an den Kopf zu werfen: »Was spielt das denn für eine Rolle? Er sieht sie doch sowieso nicht mehr! Er ist tot!«
Als Mr und Mrs Unwin die Tür hinter sich geschlossen hatten, huschte das Personal wie ein Mann ans Ende der Werkstatt, um möglichst viel von dem, was da vor sich ging, mitzubekommen. Alle drei Unwins redeten mit erregter Stimme, was das Lauschen umso leichter machte.
»Wo in drei Teufels Namen ist es?«
»Wenn ich es wüsste, würde ich nicht danach suchen, oder?«
»Es muss von jemandem entwendet worden sein.«
»Vielleicht nur ein Luftzug vom Fenster?«
»Der es aus dem Umschlag geweht hat? Mach dich nicht lächerlich, Frau!«
»Können diese Leute, wer es auch immer gemacht hat, nicht einfach noch mal eines anfertigen?«
»Keine Zeit«, sagte Sylvester Unwin. »Die andere Partei ist uns auf den Fersen.«
Eine kurze Stille trat ein, dann sagte George Unwin: »Es muss jemand aus dem Haus gewesen sein. Ruf alle zusammen, und wir durchsuchen sämtliche Zimmer.«
Das gesamte Unwin-Personal einschließlich des Schmieds und der Stallknechte wurden im Gang zusammengerufen. Man teilte ihnen mit, dass etwas Wichtiges verschwunden sei und ihre Zimmer durchsucht würden. Dies dauerte nicht lange, da die Zimmer mit nichts weiter ausgestattet waren als Bett und Tisch und keiner der Arbeiter mehr besaß als eine zweite Garnitur Kleider.
Während die anderen Angestellten das ganze Drama genossen und Betroffenheit mimten, rang Grace mit aller Kraft um ihre Fassung. Sie war sich sicher, dass als Nächstes die Angestellten und Bediensteten befragt und vielleicht sogar durchsucht würden, und auch wenn niemand etwas bei ihr finden würde, fürchtete sie sich maßlos davor,
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