Geheimnummer. Kein Sex nach Plan
dass sie die meiste Zeit des Jahres auf ihrer Almhütte verbrachte. Zusammen mit ein paar Kühen. Ohne Elektrizität, ohne fließendes Wasser. Das allein reichte, um aus ihr in meiner Phantasie eine knöchrige, hexenähnliche Kreatur zu machen.
Die Kreatur, die nun allerdings die Tür öffnete, entsprach eher einem anderen Klischee. Nämlich der Sorte Frau, die auf Oktoberfesten zehn Krüge Bier in jeder Hand halten konnte, unterstützt von ihrer massigen Oberweite. Ich wurde von einem Schwall bayrischer Wärme empfangen, die alle Horrorfilm-Befürchtungen zunichtemachte. Tante Trudi kannte mich nicht, wusste aber sofort, wer ich war, und begrüßte mich wie eine lang verschollene Tochter. Ehe ich überhaupt hallo gesagt hatte, saß ich schon in ihrer Stube vor dem Kamin und schlürfte einen heißen Kräutertee. Wir kamen sofort ins Gespräch. Über das Baby, über Tim, über seine Familie, den tragischen Tod seiner Eltern und seine Fußballkarriere. Innerhalb von Minuten wusste ich, dass Tim zu einer bayrischen Großfamilie gehörte, die sich über ganz Deutschland verteilt hatte, während Trudi auf ihrer Alm die Stellung hielt. Es war merkwürdig: Da hatte ich das Gefühl, Tim bestens zu kennen, und kaum klopfte ich einmal gegen eine morsche Holztür, eröffneten sich mir völlig neue Perspektiven. Wie Tim als kleiner Junge beim Almab- und -auftrieb geholfen hatte, einen Melkwettstreit mit seinen Cousins und Cousinen veranstaltete oder fasziniert beim Buttermachen zuschaute. Das alles war eine ganz und gar fremde Welt für mich. Nicht zu vergleichen mit meiner Kindheit in der Großstadt, wo Kühe nur auf Schokoladenverpackungen vorkamen.
Am liebsten hätte ich seiner Tante noch stundenlang zugehört, aber bis zur Almhütte lag noch ein gutes Stück vor mir. Ich erzählte Tante Trudi, dass ich Tim einen Überraschungsbesuch abstatten wollte, aber ihr skeptischer Blick auf meinen Bauch verriet, dass sie mir nicht glaubte. Vermutlich hatte Tim ihr längst von seinem Heiratsantrag und meiner unausgesprochenen, aber doch recht schroffen Abfuhr erzählt. Trotzdem ließ sie sich nichts anmerken und bestand darauf, mit ihrem Wagen vorwegzufahren.
Eine halbe Stunde später hielten wir auf einem Parkplatz neben der Talstation einer Seilbahn, die natürlich im April, und zwar nur im April, geschlossen war. Die Skisaison war vorbei und die Wandersaison noch nicht eröffnet, wie mir Trudi erklärte. »Deswegen ist der April auch der schönste Monat auf der Alm. Du hast wirklich Glück.«
Ich nickte resigniert, denn dass Glück für mich ein Parkplatz direkt vor der Haustür und ein Pizzaservice nebenan bedeutete, würde sie wohl kaum nachvollziehen können. Ich konnte Tante Trudi nur mit Mühe davon abhalten, mit mir bis zur Almhütte hochzuwandern. Als sie den Parkplatz nach einer langen detailgenauen Wegbeschreibung und noch mehr Tipps endlich wieder verlassen hatte, ignorierte ich ihren Ratschlag, das Auto hier stehen zu lassen, und bog in den Wanderweg ein. Er war breit genug für mein Auto, und ich war froh um jeden Meter, den ich nicht zu Fuß gehen musste. Nach einem knappen Kilometer war allerdings endgültig Schluss. Ich überquerte die Schneefallgrenze! Unglaublich. In den Bergen lag tatsächlich noch Schnee. Darauf war mein Auto mit seinen Sommerreifen beim besten Willen nicht vorbereitet, und ich musste es nach ein paar rutschigen Metern mitten auf dem Weg stehenlassen.
Ich holte meine Winterjacke aus dem Kofferraum, dann Handschuhe, Mütze, Schal und Wanderstiefel. Die waren schon seit Jahren nicht mehr zum Einsatz gekommen. Aber wenigstens lag keine Gipfelbesteigung vor mir. Laut Trudis Beschreibung musste ich nur noch knapp zwei Kilometer dem breiten Wanderweg folgen, der automatisch zu der Alm führen würde, auf der sie im Sommer ihre Herde weiden ließ.
Schon in der Schule hatte ich Wanderungen gehasst. Daran hatte sich bis heute nichts geändert, und bergauf im Schnee mit Baby an Bord war es erst recht kein Vergnügen. Ich kam nur sehr langsam voran und legte alle zehn Minuten eine Pause ein. Nach einer Stunde, die mich ausnahmslos durch Wälder und über keine einzige Alm geführt hatte, verfluchte ich meine Idee vom Überraschungsbesuch. Ich hätte einfach nur in Trudis warmer Stube auf Tim warten sollen. Irgendwann wäre er schon wieder von seinem Berg heruntergekommen. Auch in der nächsten halben Stunde gab es weit und breit keine Alm. Nur Bäume, einen fast zugefrorenen Bach und Schnee. Überall
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