Gehetzt
Kopf ragte über die Panzerung wie der Kopf eines Mannes aus einem türkischen Bad. Die Fahrt durch den Tunnel war irgendwie unheimlich. Das Dröhnen des Motors und das Rasseln der Ketten auf den Schwellen hallte dumpf von den Felswänden wieder.
›So ähnlich könnte auch die Fahrt auf einer Lore in einem Kohlenbergwerk sein‹, dachte Barnes und warf einen Blick in den Turm. Penn hantierte immer noch am Funkgerät herum, als hoffe er, ein Wunder vollbringen zu können, doch Davis saß wie eine Statue an den Waffen, den Körper gegen die Schulterstütze gepreßt, eine Hand am Abzug der Panzerkanone. Zweifellos machte Schütze Davis seine ganz private Hölle durch bei der Vorstellung tief unter der Erde auf eine gegnerische Panzervorhut zu stoßen.
Das Donnern der Motoren und das Knirschen und Rattern der Ketten hallte infernalisch durch den Tunnel, kündigte das Näherkommen des größten Tanks der Welt an. Barnes warf nochmals einen Blick auf seine Uhr und spähte nach vorn.
Wenn die Karte etwas taugte, müßte bald Tageslicht zu sehen sein. Nur mit größter Vorsicht konnten sie den Tunnel verlassen. Barnes hatte nicht die geringste Ahnung, wie die Lage in diesem Frontabschnitt war. Die Situation vorhin, vom Bahndamm aus, hatte jedenfalls absolut keinen Anlaß zu einer optimistischen Einschätzung dessen geboten, was sie beim Verlassen des Tunnels erwartete. Während Barnes seine Aufmerksamkeit halbwegs auf den Scheinwerferstrahl konzentrierte, spielte er in Gedanken die verschiedenen Möglichkeiten durch: Sie konnten in einem Überraschungsvorstoß aus dem Tunnel preschen – oder aber sich ganz vorsichtig dem Tunnelausgang nähern. Laut Karte gab es hinter dem Tunnel keinen Bahndamm mehr, die Strecke führte ebenerdig auf offenes Gelände hinaus. Im Westen, der Richtung, in die sie fahren mußten, versperrte ihnen der Kanal den Weg.
Man würde sehen…
Die Scheinwerfer schwangen sanft in eine Kurve. Irgendwo dahinter würde gleich Tageslicht aufschimmern und den Tunnelausgang ankündigen. Dort würde Barnes den Panzer halten lassen und zu Fuß die Lage sondieren. Er warf wieder einen Blick in die Kammer hinunter. Davis umklammerte immer noch den Abzug der Kanone, als hinge davon sein Leben ab – in einer Haltung solch unversöhnlicher Entschlossenheit, daß Barnes sich seine mögliche Reaktion auf unerwartete Ereignisse nur zu deutlich vorstellen konnte.
Worüber er nicht übermäßig glücklich war.
»Gleich haben wir’s hinter uns, Davis«, machte er seinem Kanonier Mut.
»Penn, setzen Sie sich auf Ihren Platz – nur für alle Fälle. Reynolds, Sie halten sofort an, wenn ich es sage.«
Der Tank ratterte vorwärts, die linke Raupe rumpelte über die Schwellen, die rechte mahlte über den Schotter neben dem Gleis, so daß der Panzer eine leichte Rechtsneigung hatte. Drei Geräusche – das Brummen des Motors, das Rasseln der Ketten und das Knirschen des Gesteins – vereinigten sich zu einer wahren Lärmsymphonie.
Plötzlich gab Barnes den Befehl zu stoppen. Er sagte kein Wort, sondern überlegte krampfhaft, wie er seinen Leuten beibringen sollte, was er da vor sich sah. Die Scheinwerfer durchdrangen die Dunkelheit und fielen einige Meter weiter vorn auf ein Hindernis.
Ein Erdrutsch!
Massige Felsbrocken ragten aus einer Lawine von Geröll und Erdreich. Dieses Ende des Tunnels war ebenfalls blockiert. Sie waren in dem Hügel gefangen.
Am 10. Mai war das britische Expeditionskorps, von Frankreich kommend, nach Belgien eingerückt, und Barnes’ Einheit war mit von der Partie. Ebenfalls am 10. Mai, vier Stunden vorher gegen drei Uhr nachts, hatte General von Bocks Heeresgruppe B die Grenzen von Holland und Belgien überschritten. Ihr Auftrag war es, das britische Expeditionskorps und drei französische Einheiten aus ihren befestigten Stellungen herauszulocken. Noch vor Einbruch der Dunkelheit erhielten London und Paris Kenntnis von den Vorstößen dieses riesigen Truppenkontingents, doch ein dritter, noch gewaltigerer Stoßkeil war bis dahin unbemerkt geblieben.
Dort, wo Belgien, Frankreich und Luxemburg aneinandergrenzen, liegt eine der am wenigsten bekannten Landschaften Westeuropas – das Bergland der Ardennen, ein weites Gebiet langgezogener Hügelketten und dicht bewaldeter Täler, von Landstraßen zweiter Ordnung kaum erschlossen.
Diesen Sektor der langgestreckten Frontlinie zwischen Belgien und der Schweizer Grenze hatte das französische Oberkommando als völlig unpassierbar bezeichnet
Weitere Kostenlose Bücher