Gehetzte Uhrmacher
der Schmerz sich legen und das Gefühl von Leere vorbeigehen würde. Aber das geschah nie. Und so ging das dünne Mädchen, das die Demokraten wählte, Seinfeld mochte und sein Brot mit Biomehl selbst backte, zur Wohnungstür hinaus, fuhr mit der U-Bahn den Broadway hinauf zum Times Square und verpflichtete sich bei der Armee.
Sie müsse es einfach tun, hatte sie Bob, ihrem Mann, erklärt. Er hatte sie auf die Stirn geküsst, sie fest an sich gedrückt und nicht versucht, es ihr auszureden. (Aus zwei Gründen. Erstens, als ehemaliger Navy-SEAL hielt er den Militärdienst für eine wichtige Erfahrung. Und zweitens, er glaubte fest an Lucys Gespür, das sie immer das Richtige tun ließ.)
Im Anschluss an die Grundausbildung im staubigen Texas wurde Lucy nach Übersee versetzt. Bob konnte sie eine Weile begleiten, denn sein Chef in der Spedition war überzeugter Patriot, und so vermieteten sie die Wohnung für ein Jahr. Lucy lernte Deutsch, wie man alle erdenklichen Arten von Lastwagen fährt und eine Tatsache
über sich selbst: dass sie ein erstaunliches Organisationstalent besaß. Sie landete in einer Nachschubkompanie, deren Aufgabe es war, die Truppe je nach Bedarf mit Treibstoff und anderen wichtigen Gütern zu versorgen.
Mit Benzin und Diesel gewinnt man einen Krieg, mit leeren Tanks verliert man ihn. So lautet seit einhundert Jahren die Grundregel der Kriegführung.
Dann kam eines Tages ihr Lieutenant zu ihr und teilte ihr zwei Dinge mit. Erstens, sie werde hiermit vom Corporal zum Sergeant befördert. Zweitens, man schicke sie zum Unterricht, wo sie Arabisch lernen werde.
Bob kehrte in die Vereinigten Staaten zurück, Lucy lud ihre Ausrüstung in eine C-130 und flog ab in das Land des bitteren Nebels.
Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünschst …
Lucy Richter war aus Amerika – einem Land mit abwechslungsreichem Erscheinungsbild – an einen Ort völliger Ödheit gelangt. Ihr Leben bestand fortan aus Wüstenlandschaften, flirrender Hitze unter sengender Sonne und einem Dutzend verschiedener Arten von Sand – manche davon so grob, dass sie die Haut aufscheuerten, andere so fein wie Talkum, dass sie sich auch noch im hintersten Winkel festsetzten. Lucys Auftrag gewann eine neue, viel ernstere Qualität. Wenn einem Lastwagen auf dem Weg von Berlin nach Köln das Benzin ausgeht, ruft man ein Versorgungsfahrzeug. Falls das Gleiche in einem Kampfgebiet geschieht, sterben Menschen.
Und sie sorgte dafür, dass es niemals geschah.
Stunde um Stunde legte sie Routen für Tank- oder Munitionslaster fest und musste sich bisweilen auch skurrilen Aufgaben stellen – zum Beispiel als sie sich freiwillig für eine spontane Transportmission meldete, um ein kleines Dorf mit Nahrung zu versorgen, das seit Wochen keine Vorräte mehr erhalten hatte. Zu diesem Zweck durfte Lucy sich mit störrischen Schafen herumschlagen, die partout nicht auf die Ladefläche steigen wollten.
Schafe... Was für ein Chaos!
Und nun befand sie sich wieder in einem Land mit einer Silhouette, ohne lebendiges Vieh vor den Feinkostgeschäften oder Supermarkttresen, ohne Sand, ohne brennend heiße Sonne... und ohne bitteren Nebel.
Ganz anders als ihr Leben in Übersee.
Lucy Richter war jedoch weit davon entfernt, friedlich in sich zu ruhen. Was der Grund dafür war, dass sie in diesem Moment nach Süden starrte und in der großen Lücke des veränderten Stadtbilds nach einer Antwort suchte.
Ja oder nein …
Das Telefon klingelte. Lucy zuckte zusammen. Das war ihr in letzter Zeit häufig passiert – bei jedem plötzlichen Geräusch. Einem Telefon, einer zuschlagenden Tür, einer Fehlzündung.
Immer mit der Ruhe... Sie nahm den Hörer ab. »Hallo?«
»He, Kleines.« Es war eine gute Freundin von ihr aus der Nachbarschaft.
»Claire.«
»Was machst du gerade?«
»Ich häng bloß so rum.«
»Und in welcher Zeitzone fühlst du dich?«
»Das weiß nur Gott allein.«
»Ist Bob zu Hause?«
»Nein, er hat Spätschicht.«
»Gut, dann treffen wir uns auf ein Stück Käsekuchen.«
» Nur Käsekuchen?«, fragte Lucy pikiert.
»Cocktails?«
»Das klingt schon besser. Also los.«
Sie einigten sich auf ein nahes Restaurant, das lange geöffnet hatte, und beendeten das Gespräch.
Mit einem letzten Blick auf den leeren schwarzen Südhimmel stand Lucy auf, zog sich warm an, streifte sich Skijacke und Mütze über und verließ die Wohnung. Flink lief sie die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.
Dort hielt sie erschrocken inne, als unvermittelt
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