Gehetzte Uhrmacher
Kind.«
»Macht ihn das etwa weniger korrupt?«
Rhyme sagte nichts.
»Soll ich es dir aufschlüsseln, Rhyme? Wie einen Beweis? Ein paar Tropfen Reagens hinzufügen und mir das Ergebnis anschauen? Das kann ich nicht. Ich weiß nur, dass ich einen verdammt ekligen Geschmack im Mund habe. Das hier verändert meine Sicht auf den ganzen Job.«
»Es muss sehr schwierig sein«, sagte er sanft. »Aber was auch immer mit ihm geschehen ist, färbt doch nicht auf dich ab. Es zählt nur, dass du eine gute Polizistin bist und dass deutlich weniger Fälle aufgeklärt werden, falls du deinen Abschied nimmst.«
»Ich kann nur dann einen Fall aufklären, wenn ich mit dem Herzen bei der Sache bin. Und das bin ich nicht mehr. Etwas ist weg.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Pulaski macht sich großartig. Er ist inzwischen besser, als ich es zu Beginn unserer Zusammenarbeit war.«
»Er ist besser, weil du ihn ausbildest.«
»Tu das nicht.«
»Was?«
»Versuch nicht, mich mit diesen kleinen Bemerkungen einzuwickeln. Das hat meine Mutter immer bei meinem Vater gemacht. Wenn du nicht willst, dass ich aufhöre, kann ich das verstehen, aber spiel nicht diese Art von Karte aus.«
Doch er musste diese Karte ausspielen. Und jede andere, die ihm einfiel. Nach dem Unfall hatte Rhyme immer wieder mit Selbstmordgedanken zu kämpfen gehabt. Und obwohl manchmal nicht mehr viel gefehlt hatte, hatte er sich letztlich stets dagegen entschieden. Was Amelia Sachs nun in Erwägung zog, war psychischer Selbstmord. Er wusste, falls sie aus dem Polizeidienst ausschied, würde sie sich damit seelisch zugrunde richten.
»Aber Argyle? Das ist doch nicht das Richtige für dich.« Er schüttelte den Kopf. »Niemand nimmt diese Art von Personenschutz ernst, am wenigsten die Schutzbefohlenen.«
»Nein, deren Aufträge sind gut. Und man bekommt eine zusätzliche Ausbildung. Man lernt Fremdsprachen … Es gibt dort sogar eine kriminaltechnische Abteilung. Und die Bezahlung stimmt.«
Er lachte. »Ist es dir vielleicht jemals ums Geld gegangen? Lass dir etwas Zeit, Sachs. Warum die Eile?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde den St.-James-Fall abschließen. Und ich werde alles tun, was du brauchst, um den Uhrmacher festzunageln. Aber danach …«
»Du weißt, wenn du aufhörst, schlägst du damit viele Türen hinter dir zu. Das wird dir noch lange nachhängen, falls du jemals zurückkehren willst.« Er wandte den Kopf ab. Das Blut pochte in seinen Schläfen.
»Rhyme.« Sie zog einen Stuhl zum Bett, setzte sich und nahm seine Hand – die Rechte, deren Finger er ein wenig bewegen und in der er wieder etwas spüren konnte. Amelia drückte sie fest. »Was auch immer ich tue, es wird uns und unser Leben nicht beeinträchtigen.« Sie lächelte.
Du und ich, Rhyme...
Du und ich, Sachs...
Er sah weg. Lincoln Rhyme war ein Wissenschaftler, ein Mann des Verstandes, nicht des Herzens. Einige Jahre zuvor hatten Sachs und er sich bei einem schwierigen Fall kennen gelernt – einer Reihe von Entführungen durch einen Mörder, der von menschlichen Knochen besessen war. Niemand hatte den Täter aufhalten können, nur dieses ungleiche Duo – Rhyme, der Querschnittsgelähmte im Ruhestand, und Sachs, die desillusionierte Anfängerin, die von ihrem Geliebten hintergangen worden war. Dennoch hatten sie irgendwie gemeinsam ein Ganzes gebildet und jeweils die klaffenden seelischen
Lücken des anderen geschlossen. Und sie hatten den Killer erwischt.
Auch wenn er es noch so sehr leugnen wollte, diese Worte, du und ich , waren in der unsicheren Welt, die sie zusammen geschaffen hatten, sein Kompass gewesen. Er war keineswegs davon überzeugt, dass Sachs Recht behalten und ihre Entscheidung sich nicht auf sie beide auswirken würde. Würde der Wegfall ihres gemeinsamen Ziels sie verändern?
Erlebte er gerade den Übergang vom Vorher zum Nachher?
»Hast du bereits gekündigt?«
»Nein.« Sie zog einen weißen Umschlag aus der Jackentasche. »Den Brief habe ich schon geschrieben. Aber ich wollte es dir vorher sagen.«
»Lass dir ein paar Tage Zeit, bevor du dich endgültig entscheidest. Du schuldest mir das nicht, aber ich bitte dich darum. Um ein paar Tage.«
Sie starrte den Umschlag lange an. »Also gut«, sagte sie schließlich.
Irgendwie paradox, dachte Rhyme. Wir jagen einen Täter, der von Uhren besessen ist, und für mich gibt es in diesem Moment nichts Wichtigeres, als Sachs ein wenig Zeit abzuringen. »Danke«, sagte er. »Jetzt lass uns an die Arbeit
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