Gehetzte Uhrmacher
Greenwich Village klapperte Kathryn Dance die Häuser und Geschäfte im Umfeld von Lucy Richters Wohnung ab. Dabei dachte sie über die symbiotische Beziehung zwischen der kinesischen und der forensischen Wissenschaft nach.
Ein Kinesik-Experte ist auf einen Menschen – einen Zeugen oder Verdächtigen – genauso angewiesen wie der forensische Wissenschaftler auf Spuren. Der vorliegende Fall zeichnete sich allerdings durch einen überraschenden Mangel an beidem aus.
Dance war frustriert. Eine solche Ermittlung hatte sie bisher noch nie erlebt.
Verzeihung, Sir, Madam, he da, junger Mann, es hat hier in der Nähe heute einen Polizeieinsatz gegeben. Haben Sie davon gehört? Ah, gut. Ich würde gern wissen, ob Ihnen zufällig jemand aufgefallen ist, der die Gegend eilig verlassen hat. Oder haben Sie vielleicht
etwas Verdächtiges oder Ungewöhnliches bemerkt? Werfen Sie doch mal einen Blick auf dieses Bild...
Nichts.
Dance stieß nicht mal auf einen Fall von chronischem Gedächtnisverlust, wie er bei Leuten auftritt, die eindeutig etwas wissen, aber das Gegenteil behaupten, weil sie um sich oder ihre Familie fürchten. Nein, nach vierzig eisigen Minuten auf der Straße stellte sie fest, dass schlicht und ergreifend niemand etwas gesehen hatte.
Entschuldigen Sie, Sir, ja, das ist ein kalifornischer Dienstausweis, aber ich arbeite mit dem New York Police Department zusammen, wie Sie unter dieser Rufnummer gern überprüfen können. Also, haben Sie gesehen, ob...
Nein.
Als sie einen Mann ansprechen wollte, der soeben ein Haus verließ, war Dance so verblüfft, dass ihr die Worte im Hals stecken blieben. Sie starrte ihn einfach nur aus großen Augen an, und in ihrem Kopf herrschte vorübergehend Leere – denn der Unbekannte war ihrem verstorbenen Ehemann wie aus dem Gesicht geschnitten. Dann bekam sie sich wieder in den Griff und sagte ihren Spruch auf. Der Mann hatte jedoch gemerkt, dass etwas nicht stimmte, und erkundigte sich stirnrunzelnd, ob es ihr gut gehe.
Das war jetzt so richtig professionell, dachte Dance verärgert. »Danke, alles in Ordnung«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab.
Der Geschäftsmann hatte aber genau wie seine Nachbarn nichts Außergewöhnliches gesehen und ging weiter. Dance schaute ihm lange hinterher. Dann setzte sie ihre Arbeit fort.
Sie wollte eine Spur finden, wollte unbedingt helfen, diesen Täter zu fassen. Das lag zum einen daran, dass sie, wie jeder Polizist, natürlich vorhatte, einen kranken, gefährlichen Mann aus dem Verkehr zu ziehen. Aber sie wollte ihn außerdem nach seiner Festnahme verhören. Der Uhrmacher war anders als alle Verbrecher, mit denen sie je zu tun gehabt hatte. Kathryn Dance wollte um jeden Preis herausfinden, wie er tickte – und lachte insgeheim über die unbeabsichtigte Wortwahl.
Sie sprach auch entlang des nächsten Häuserblocks mehrere Passanten an, fand aber niemanden, der ihr hätte behilflich sein können.
Bis sie den Einkäufer traf.
Einen Block von Lucys Wohnung entfernt hielt sie auf dem Gehweg einen Mann an, der einen Handkarren voller Lebensmittel hinter sich herzog. Er warf einen Blick auf das Phantombild des Uhrmachers und sagte spontan: »O ja, ich glaube, den habe ich gesehen...« Dann zögerte er. »Aber so genau hab ich gar nicht darauf geachtet.« Er wollte weitergehen.
Kathryn Dance hingegen erkannte sofort, dass er mehr wusste.
Gedächtnisverlust.
»Das ist sehr wichtig.«
»Ich hab nur gesehen, dass jemand die Straße entlanggerannt ist. Das war alles.«
»Hören Sie, ich habe eine Idee. Ist irgendwas davon leicht verderblich?« Sie wies auf die Lebensmittel.
Er zögerte erneut, weil er nicht wusste, worauf sie hinauswollte. »Eigentlich nicht.«
»Wollen wir nicht einen Kaffee trinken gehen, und ich stelle Ihnen noch ein paar Fragen. Ginge das?«
Sie sah ihm an, dass es ihm nicht recht war, aber dann fegte eine eisige Windbö über sie hinweg, und er schien plötzlich nichts mehr gegen etwas Warmes zu trinken zu haben. »Meinetwegen. Aber ich kann Ihnen wirklich nichts mehr erzählen.«
Oh, das werden wir noch sehen.
Amelia Sachs stieg hinten in den Van ein.
Mit Coyles Hilfe gelang es ihr, den ehemaligen Detective Art Snyder auf der Rückbank in eine sitzende Position aufzurichten. Er war nur halb bei Bewusstsein und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin.
Als Coyle die Tür des Wagens geöffnet hatte, hatte Snyder reglos dagelegen, mit weit nach hinten gestrecktem Kopf, und Amelia hatte
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