Gehetzte Uhrmacher
ermordet. Das war hart gewesen, aber sie hatten nicht gezögert, es zu tun. Und er war bereit, auch alle weiteren Zivilisten aus dem Weg zu räumen, die ihrem Erpresserring gefährlich werden konnten. Kein Problem. Fünf Millionen Dollar in bar – ihre bisherige Beute – linderten jedes Schuldgefühl.
Aber Baker hatte noch nie einen anderen Polizisten umgebracht.
Stirnrunzelnd und nervös beobachtete er Amelia Sachs und diesen Jungen, Pulaski, der ebenfalls ein einfaches Ziel bot.
Ein großer Unterschied.
Er würde Kollegen töten, Mitglieder der Familie.
Doch die traurige Wahrheit lautete, dass Sachs und mit ihr Pulaski sein Leben zerstören konnten. Und so gab es keine Alternative.
Er betrachtete den Tatort. Ja, Duncan hatte alles perfekt geplant. Da war das Fenster. Er blickte hinaus. Die Gasse, viereinhalb Meter
unter ihm, war menschenleer. Und neben ihm stand der graue Metallstuhl, von dem der Killer ihm erzählt hatte und mit dem er nach den Morden die Scheibe einschlagen würde. Er sah außerdem die große Öffnung eines Lüftungsschachts, deren Abdeckung er entfernen würde, damit es so aussah, als habe der Uhrmacher sich darin versteckt gehabt.
Baker atmete tief durch.
Okay, es ging los. Er musste sich beeilen, bevor noch jemand hier auftauchte. Amelia Sachs hatte die anderen Beamten in den Hauptkorridor geschickt, aber das bot keine Gewähr, dass nicht doch einer von ihnen zurückkommen würde.
Er holte die Zweiunddreißiger hervor und zog leise den Schlitten zurück, um eine Patrone in die Kammer zu befördern. Dann trat er ein Stück vor und hielt die Waffe dabei hinter seinem Rücken versteckt. Er starrte Sachs an, die sich fast wie eine Tänzerin an dem Tatort hin- und herbewegte, präzise, flüssig, hochkonzentriert. Es war ein wunderschöner Anblick.
Baker riss sich zusammen.
Wer zuerst?, grübelte er.
Pulaski war drei Meter von ihm entfernt, Sachs doppelt so weit; beide wandten ihm den Rücken zu.
Eigentlich hätte Pulaski als der Nähere auch der Erste sein müssen, aber Baker hatte durch Lincoln Rhyme von Sachs’ Schießkünsten erfahren. Sie konnte innerhalb weniger Sekunden ziehen und feuern. Der Junge hatte seine Waffe vermutlich noch nie im Dienst benutzt. Er würde vielleicht nach der Pistole greifen, sobald Sachs tot war, aber er würde es nicht mehr schaffen, sie zu ziehen.
Noch ein paar Atemzüge.
Amelia Sachs tat ihm unwissentlich einen Gefallen. Sie richtete sich aus der Hocke auf. Ihr Rücken bot ein erstklassiges Ziel. Baker visierte den oberen Teil ihrer Wirbelsäule an und drückte ab.
... Einunddreißig
Bei den meisten Leuten würde ein leises metallisches Klicken in dem Dutzend anderer Umgebungsgeräusche eines Großstadtbürogebäudes einfach untergehen.
Amelia Sachs hingegen erkannte darin sofort den Schlagbolzen einer Automatikpistole, der entweder auf das Zündhütchen eines Blindgängers oder auf ein leeres Patronenlager traf. Sie hatte dieses charakteristische Geräusch schon hundertmal gehört – bei ihren eigenen Waffen und denen ihrer Kollegen.
Das Klicken wurde von dem gefolgt, was normalerweise danach kam – der Schütze lud die Waffe durch, um die schadhafte Patrone auszuwerfen und die nächste aus dem Magazin in die Kammer zu befördern. Dieses Manöver fiel oft – so auch jetzt – sehr hektisch aus, denn der Schütze musste die Pistole so schnell wie möglich einsatzbereit haben. Es konnte eine Frage von Leben und Tod sein.
Das alles registrierte Sachs im Bruchteil einer Sekunde. Sie ließ den Kleberoller fallen, mit dem sie Partikel aufgesammelt hatte, griff an die rechte Hüfte – sie wusste immer genau, wo ihr Holster saß -, wirbelte im nächsten Augenblick herum und ging geduckt in Schussposition. Ihre Glock zeigte in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.
Am rechten Rand ihres Sichtfelds bemerkte sie Ron Pulaski, der sich soeben aufrichtete, erschrocken ihre Waffe anstarrte und sich fragte, was sie da machte.
Sechs Meter entfernt stand mit großen Augen Dennis Baker. Er trug Handschuhe und hielt eine kleine Pistole, offenbar eine Zweiunddreißger, auf Amelia gerichtet, während er noch an dem Schlitten zog. Sie sah, dass es sich um eine Autauga Mk II handelte, genau das Modell, das Rhyme bei dem Uhrmacher vermutete.
Baker war konsterniert und bekam im ersten Moment kein Wort heraus. »Ich hab was gehört«, sagte er dann. »Ich dachte, der Uhrmacher kommt zurück.«
»Sie haben abgedrückt.«
»Nein, nur
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