Gehetzte Uhrmacher
konnte.
Lincoln Rhyme glaubte an Glück ebenso sehr wie an Gespenster und fliegende Untertassen. Er wollte fragen, was zum Teufel denn Glück mit irgendetwas an diesem Fall zu tun habe, doch er sprach es nicht aus.
Glück...
Auf einmal schwirrte ihm ein Dutzend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf, wie Bienen, die aus ihrem Stock ausschwärmten. Er runzelte die Stirn. »Das ist seltsam...« Seine Stimme erstarb. Schließlich flüsterte er: »Duncan.«
»Alles in Ordnung, Linc? Geht es dir gut?«
»Rhyme?«, fragte Sachs.
»Pssst.«
Er ließ den Rollstuhl sich langsam um die eigene Achse drehen, schaute in eine nahe Gasse und dann auf die Tüten und Schachteln mit den Beweisen, die Sachs gesichert hatte. Er lachte leise auf. »Holt Bakers Pistole«, befahl er.
»Seine Dienstwaffe?«, fragte Pulaski.
» Natürlich nicht. Die andere. Die Zweiunddreißiger. Wo ist sie? Beeilung!«
Pulaski fand die Pistole in einer der Plastiktüten. Er kam damit zurück.
»Zerlegt sie.«
»Ich?«, fragte der Neuling.
»Sachs.«
Sie breitete eine Kunststoffplane auf dem Gehweg aus, tauschte ihre Leder- gegen Latexhandschuhe, nahm die Waffe innerhalb weniger Sekunden auseinander und legte die Einzelteile auf den Boden.
»Lass mich die Teile eines nach dem anderen sehen.«
Sie hielt sie ihm hin. Ihre Blicke trafen sich. »Interessant«, sagte Sachs.
»Okay. Grünschnabel?«
»Ja, Sir?«
»Ich will mit dem Gerichtsmediziner sprechen. Machen Sie ihn für mich ausfindig.«
»Äh, gern. Soll ich ihn anrufen?«
Rhymes lang gezogener Seufzer ließ seinen Atem in einem Dampfstrahl entweichen. »Sie könnten ihm ein Telegramm schicken, und Sie könnten ihm unter seinem Balkon ein Ständchen bringen. Aber ich möchte wetten, am schnellsten geht es, wenn Sie... Ihr... Telefon... benutzen. Und lassen Sie sich nicht abwimmeln. Es ist dringend .«
Der junge Mann zückte sein Mobiltelefon und wählte eine Nummer.
»Linc«, sagte Sellitto, »was hast du...«
»Und du musst auch etwas für mich erledigen, Lon.«
»Ja? Was?«
»Auf der anderen Straßenseite steht ein Mann und beobachtet uns. An der Einmündung der Gasse.«
Sellitto wandte sich um. »Ich sehe ihn.« Der Mann war schlank, trug trotz der Dunkelheit eine Sonnenbrille, eine Mütze und außerdem Jeans und eine Lederjacke. »Der kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Bitte ihn doch zu uns. Ich würde ihm gern ein paar Fragen stellen.«
Sellitto lachte. »Kathryn Dance hat wohl mächtig Eindruck auf dich gemacht, Linc. Ich dachte, du traust Zeugen nicht.«
»Oh, ich schätze, in diesem Fall sollte ich ruhig mal eine Ausnahme machen.«
Der stämmige Detective zuckte die Achseln. »Wer ist er?«
»Ich könnte mich irren«, sagte Rhyme in dem Tonfall eines Mannes, der das für sich eigentlich ausschloss, »aber ich glaube, er ist der Uhrmacher.«
... Zweiunddreißig
Gerald Duncan saß neben Sachs und Sellitto auf dem Bordstein. Sie hatten ihm Handschellen angelegt und ihm die Mütze, die Sonnenbrille, mehrere Paar beigefarbener Handschuhe, eine Brieftasche und ein blutiges Teppichmesser abgenommen.
Im Gegensatz zu Dennis Baker blieb er ruhig und freundlich – obwohl drei Beamte gleichzeitig ihn zu Boden gerissen, durchsucht und gefesselt hatten, darunter Sachs, eine Frau, die nicht unbedingt für ihre Sanftheit bekannt war, wenn es um Festnahmen ging, erst recht nicht bei Tätern wie diesem.
Sein Führerschein aus Missouri bestätigte seine Identität. Die Adresse lag in St. Louis.
»O Mann«, sagte Sellitto. »Wie, zum Teufel, hast du ihn entdeckt?«
Rhyme war zu seiner Schlussfolgerung über die Identität des Mannes auf weit weniger wundersame Weise gelangt, als es den Anschein hatte. Schon bevor der Mann in der Gasse ihm aufgefallen war, hatte er vermutet, der Uhrmacher könne sich noch vor Ort aufhalten.
»Ich hab ihn«, sagte Pulaski. »Den Gerichtsmediziner.«
Rhyme beugte seinen Kopf zu dem Telefon vor, das der Neuling ihm hinhielt, und sprach kurz mit dem Arzt. Der Mann konnte mit einigen sehr interessanten Informationen aufwarten. Rhyme dankte ihm und nickte; Pulaski unterbrach die Verbindung. Der Kriminalist fuhr mit seinem Storm Arrow näher an Duncan heran.
»Sie sind Lincoln Rhyme«, sagte der Gefangene, als sei es ihm eine Ehre, den Kriminalisten kennen zu lernen.
»Ganz recht. Und Sie sind, ich zitiere, der Uhrmacher.«
Der Mann lachte wissend auf.
Rhyme nahm ihn genauer in Augenschein. Er wirkte erschöpft, aber auch irgendwie zufrieden
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