Gehetzte Uhrmacher
wird er sich unaufgefordert einmischen?«, hatte Rhyme den zerknitterten Detective gefragt.
»Nicht so, dass du es bemerken würdest.«
»Das heißt?«
»Er will einen großen Fall auf seinem Konto verbuchen, und er glaubt, du kannst ihm dazu verhelfen. Also wird er dir weitgehend freie Hand lassen und dich nach Kräften unterstützen.«
Was gut war, denn sie konnten Verstärkung gebrauchen. Es gab einen weiteren NYPD-Beamten, mit dem sie oft zu tun hatten, Roland Bell, ein Mann aus den Südstaaten. Dieser Detective erledigte seine Aufgaben mit einer großen Gelassenheit, die ganz und gar nicht Rhymes Wesen entsprach, ging dabei aber ebenso methodisch und akribisch vor. Zurzeit war Bell mit seinen beiden Söhnen auf Urlaub in North Carolina und besuchte seine Freundin, die in einer dortigen Kleinstadt für Ruhe und Ordnung sorgte.
Darüber hinaus arbeiteten sie häufig mit einem FBI-Agenten namens Fred Dellray zusammen, der berühmt für seine Fähigkeiten als verdeckter Ermittler sowie für seine Erfolge bei der Terrorbekämpfung war. Morde dieser Art gelten normalerweise nicht als Bundesverbrechen, aber Dellray war Sellitto und Rhyme immer wieder bei ihren Ermittlungen behilflich und stellte ihnen ohne den üblichen Papierkram die Ressourcen des FBI zur Verfügung. Im Augenblick hatten er und seine Kollegen jedoch alle Hände voll mit mehreren groß angelegten Betrugsfällen zu tun, bei denen es ähnlich wie beim Enron-Skandal um Firmengelder in astronomischer Höhe ging. Dellray stand vorläufig also nicht zur Verfügung.
Daher war Bakers Anwesenheit – ganz zu schweigen von seinem Einfluss im Big Building – ein Geschenk des Himmels. Der Lieutenant beendete nun sein Telefonat und erklärte, dass Sachs den Verdächtigen gegenwärtig verhöre, wenngleich dieser sich nicht besonders kooperativ zeige.
Neben Baker saß Mel Cooper, der schmächtige Gesellschaftstänzer und Kriminaltechniker, auf dessen Mitarbeit Rhyme größten Wert legte. Cooper musste für seine berufliche Brillanz einen hohen Preis zahlen, denn Rhyme zitierte ihn zu allen möglichen Tagesund Nachtzeiten herbei, damit er die technische Spurenauswertung der jeweiligen Fälle übernahm. Als Rhyme ihn an jenem Morgen im Labor in Queens angerufen hatte, hatte Cooper ein wenig
zögerlich gewirkt und gesagt, er wolle mit seiner Freundin und seiner Mutter übers Wochenende nach Florida fliegen.
»Ein noch größerer Anreiz, um so schnell wie möglich herzukommen, meinst du nicht auch?«, hatte Rhyme erwidert.
»Ich bin in einer halben Stunde da.«
Nun saß er an einem der Tische und wartete auf das Eintreffen der Beweise. Er hatte bereits Latexhandschuhe übergestreift und fütterte Jackson mit ein paar Keksen; der Hund lag zusammengerollt zu seinen Füßen.
»Falls auch nur ein Hundehaar unsere Spuren verunreinigt, werde ich alles andere als erfreut reagieren«, murrte Rhyme.
»Er ist ziemlich niedlich«, sagte Cooper und zog ein neues Paar Handschuhe an.
Der Kriminalist stöhnte auf. Ein Begriff wie »niedlich« kam in Lincoln Rhymes Wortschatz nicht vor.
Sellittos Telefon klingelte. Das Gespräch dauerte nicht lange. »Wegen des Opfers am Pier«, erklärte der Detective. »Die Küstenwache und unsere Taucher haben bis jetzt keine Leiche entdeckt. Die Überprüfung der eingegangenen Vermisstenmeldungen ist noch nicht abgeschlossen.«
In diesem Moment traf das Fahrzeug der Spurensicherung ein, und Thom half einem der Beamten, das von Sachs sichergestellte Material ins Haus zu tragen.
Das wurde aber auch Zeit …
Baker und Cooper schleppten eine schwere, in Plastik gewickelte Metallstange herein.
Die Mordwaffe aus der Gasse.
Der Beamte der Spurensicherung übergab die dazugehörenden Registrierkarten an Cooper, der sie sogleich abzeichnete. Dann verabschiedete der Mann sich, aber Rhyme beachtete ihn gar nicht. Der Kriminalist hatte nur Augen für das Beweismaterial. Dies war einer der Momente, für die er lebte. Seine Leidenschaft – genau genommen sogar seine Sucht -, sich als Jäger auf die Fährte eines Täters zu begeben, hielt trotz der Wirbelsäulenverletzung unverändert an, und die an den Tatorten gesicherten Spuren stellten das Feld dar, auf dem dieses Spiel gespielt wurde.
Er verspürte gespannte Erwartung.
Und auch ein Schuldgefühl.
Denn sein Vergnügen bedeutete stets, dass jemand anders einen Verlust erlitten hatte: das Opfer auf dem Pier und Theodore Adams, ihre Familien und Freunde. Der Kummer der anderen berührte
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