Gehetzte Uhrmacher
konzentriert die Tafel anstarrte, leise etwas vor sich hin murmelte und den Kopf schüttelte, als würde er sich Vorwürfe machen, etwas übersehen zu haben. Gelegentlich schloss er die Augen. Ein- oder zweimal warf er eine Bemerkung über die Ermittlungen ein, strafte Dance aber weitgehend mit Nichtbeachtung.
Es amüsierte sie. Kathryn Dance war an Skepsis gewöhnt. Oft schlug sie ihr entgegen, weil sie einfach nicht wie eine typische Polizistin aussah, diese einen Meter fünfundsechzig große Frau, die ihr dunkelblondes Haar zumeist, so wie jetzt, zu einem festen Zopf geflochten hatte, mit ihrem hellvioletten Lippenstift, dem iPod,
den baumelnden Ohrhörern und dem Gold- und Muschelschmuck aus der Werkstatt ihrer Mutter – ganz zu schweigen von ihrer großen Leidenschaft für extravagante Schuhe (Dance musste bei ihrer täglichen Arbeit normalerweise keine Verdächtigen zu Fuß verfolgen).
In diesem Fall aber vermutete sie hinter Rhymes Desinteresse einen anderen Grund. Wie die meisten forensischen Spezialisten hielt er nicht viel von Kinesik und Befragungen. Er hatte sich wahrscheinlich dagegen ausgesprochen, sie zu dem Fall hinzuzuziehen.
Dance wiederum wusste um die Relevanz greifbarer Beweise, aber sie konnte sich nicht für die Arbeit an ihnen begeistern. Nur die menschliche Seite des Verbrechens und seiner Aufklärung brachte ihr Blut in Wallung.
Kinesik gegen die forensische Wissenschaft …
In Ordnung, Detective Rhyme.
Während der gut aussehende, ungeduldige Kriminalist weiterhin die Tabelle anstarrte, nahm Dance die Einzelheiten dieses merkwürdigen Falls in sich auf. Die Morde des selbst ernannten Uhrmachers waren zweifellos entsetzlich, aber Kathryn war nicht schockiert. Sie hatte bereits mit ähnlich schrecklichen Fällen zu tun gehabt. Und immerhin wohnte sie in Kalifornien, wo Charles Manson dem Bösen eine neue Dimension verliehen hatte.
Ein anderer Detective des NYPD, Dennis Baker, erzählte ihr nun, worum genau man sie bitten wollte. Es gab einen Zeugen, der eventuell über wichtige Informationen verfügte, aber nicht damit herausrücken wollte.
»Er behauptet, er habe nichts gesehen«, fügte Sachs hinzu. »Aber mein Gefühl sagt mir etwas anderes.«
Dance war enttäuscht, dass sie es nicht mit einem Verdächtigen, sondern nur mit einem Zeugen zu tun bekam. Sie bevorzugte die Herausforderung, einem Täter gegenüberzutreten, je verlogener, desto besser. Andererseits nahm die Befragung eines Zeugen viel weniger Zeit in Anspruch als die Zermürbung eines Verbrechers, und sie durfte schließlich ihren Flug nicht verpassen.
»Ich werde sehen, was ich tun kann«, versprach sie. Dann griff sie in ihre Handtasche und setzte eine runde Brille auf. Das Gestell war blassrosa.
Sachs fasste die bisherigen Erkenntnisse über Ari Cobb zusammen, den widerspenstigen Zeugen. Sie schilderte den Ablauf seines gestrigen Abends, soweit es sich hatte nachprüfen lassen, und sein Verhalten am heutigen Morgen.
Dance hörte aufmerksam zu, nippte dabei an dem Kaffee, den Rhymes Betreuer ihr eingeschenkt hatte, und aß ein Stück Gebäck.
Als Sachs geendet hatte, ordnete Dance ihre Gedanken. »Okay, Folgendes«, sagte sie dann. »Lassen Sie mich Ihnen einen Crashkurs geben. Lon hat das gestern bereits im Seminar gehört, aber für die anderen möchte ich kurz erklären, wie ich vorgehe. Die traditionelle Kinesik beschäftigt sich mit dem physischen Verhalten – der Körpersprache – und zieht daraus Rückschlüsse auf die emotionale Verfassung und die Aufrichtigkeit einer Person. Die meisten Fachleute, ich ebenfalls, beziehen den Begriff inzwischen auf alle Formen der Kommunikation – also auch auf verbale und schriftliche Äußerungen.
Zuerst verschaffe ich mir einen grundlegenden Eindruck, das heißt, ich schaue mir an, wie der Zeuge sich bei Auskünften verhält, von denen wir wissen, dass sie der Wahrheit entsprechen – Name, Adresse, Beruf und dergleichen. Ich achte auf seine Gestik, Haltung, Wortwahl und die Stichhaltigkeit dessen, was er sagt.
Wenn mein erster Eindruck steht, fange ich an, ihm Fragen zu stellen, um herauszufinden, worauf er mit Stress reagiert. Diese Reaktion bedeutet entweder, dass er lügt oder dass das jeweilige Thema ihm aus irgendeinem Grund unangenehm ist. Bis dahin handelt es sich meinerseits immer noch um eine ›Befragung‹. Sobald ich ihn einer Lüge verdächtige, beginne ich mit dem ›Verhör‹. Ich werde ihm dann unter Anwendung verschiedener Techniken so lange
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