Gehetzte Uhrmacher
sammeln. Er konnte nicht gegen die Regeln verstoßen und Gerald Duncan enttäuschen. Vincent sog die beißend kalte Luft ein. Er sollte abwarten.
Doch dann ging Joanne dicht hinter dem Fenster vorbei, sodass er sie deutlich erkennen konnte. Mann, ist die hübsch ...
Vincents Handflächen wurden feucht. Er könnte sie sich natürlich jetzt gleich nehmen und gefesselt für Duncan zurücklassen, damit dieser sie später tötete. Ein Freund hätte doch sicher Verständnis dafür. Und sie würden beide bekommen, was sie wollten.
Manchmal kann man eben einfach nicht warten.
Der Hunger macht mit dir, was er will …
Pack nächstes Mal gefälligst warme Klamotten ein. Was hast du dir nur dabei gedacht?
Kathryn Dance, Mitte dreißig, saß in einem stinkenden Taxi und hielt die ausgestreckten Finger mit den dunkelrot lackierten Nägeln vor das Heizgebläse an der Rückbank, das nicht etwa heiße oder auch nur warme Luft ausstieß, sondern allenfalls unkalte, wie sie feststellen musste. Sie rieb die Hände aneinander und nutzte das Gebläse für ihre schwarz bestrumpften Knie.
Dance stammte aus einer Gegend, in der die Temperatur ganzjährig über zwanzig Grad lag und man der Carmel Valley Road sehr, sehr weit folgen musste, bis es genug Schnee gab, dass Sohn und Tochter mit ihrem Schlitten glücklich wurden. Als sie in letzter Minute ihre Sachen gepackt hatte, um zu dem Seminar hier nach New York zu fliegen, war ihr aus irgendeinem Grund entfallen, dass Nordosten plus Dezember dem Himalaja gleichkam – zumindest, was die Temperaturen betraf.
Sie dachte nach: Hier werde ich die restlichen fünf Pfund von dem, was ich mir vorigen Monat in Mexiko angefressen habe (wo sie nichts anderes getan hatte, als in einem verqualmten Zimmer zu sitzen und einen mutmaßlichen Entführer zu verhören), bestimmt nicht los. Und wenn ich das zusätzliche Gewicht schon nicht loswerde, könnte es sich wenigstens nützlich machen und als Isolierung wirken. Das ist nicht fair... Sie zog sich den dünnen Mantel fester um den Leib.
Kathryn Dance arbeitete als Special Agent beim California Bureau of Investigation in Monterey. Sie war eine der landesweit besten Expertinnen für Vernehmungen und Kinesik – die Wissenschaft von der Beobachtung und Analyse der Körpersprache und verbalen Nuancen bei Zeugen und Verdächtigen. Seit drei Tagen hielt sie in New York ein Seminar für die hiesigen Strafverfolgungsbehörden.
Die Kinesik ist ein seltenes Spezialgebiet der Polizeiarbeit, aber für Kathryn Dance gab es nichts Großartigeres. Sie war süchtig nach Menschen. Sie faszinierten und begeisterten sie. Aber sie bestürzten sie auch und forderten sie heraus. Diese Milliarden von merkwürdigen Geschöpfen auf dieser Welt, die die absonderlichsten und wunderbarsten und schrecklichsten Dinge von sich gaben … Sie empfand, was sie empfanden, sie fürchtete, was ihnen Angst machte, und sie zog Vergnügen aus ihrer Freude.
Nach dem College hatte Dance zunächst als Journalistin gearbeitet,
was nicht umsonst als idealer Beruf für all jene gilt, die kein Ziel vor Augen haben, aber unendlich neugierig sind. Sie wurde Gerichtsreporterin und brachte viele Stunden in Verhandlungssälen zu, wo sie tagtäglich Anwälte, Täter und Geschworene erlebte. Dabei gelangte sie zu einer Erkenntnis: Wenn sie einen Zeugen beobachtete und seinen Worten lauschte, merkte sie sofort, ob er die Wahrheit sagte. Sie sah den Geschworenen an, wann sie gelangweilt, verwirrt, wütend oder schockiert waren, wann sie dem Angeklagten glaubten und wann nicht. Sie wusste genau, wer von den Anwälten seinen Beruf verfehlt hatte und wer sein Metier beherrschte.
Sie erkannte auch, welche Polizisten mit Leib und Seele bei der Sache waren und welche nur irgendwie die Zeit totschlugen. (Einer der Ersteren fiel ihr ganz besonders auf: ein vorzeitig ergrauter FBI-Agent aus der Zweigstelle San José, der humorvoll und engagiert in einem Bandenprozess aussagte, über den sie berichtete. Nach den Schuldsprüchen erschlich Kathryn sich ein Exklusivinterview mit ihm, und er konnte im Gegenzug eine Verabredung mit ihr herausschinden. Acht Monate später waren sie und William Swenson verheiratet.)
Als die Arbeit als Reporterin ihr zu eintönig wurde, entschied Kathryn Dance sich für einen Laufbahnwechsel. Eine Zeit lang glich ihr Leben einer Achterbahnfahrt, denn sie musste als Mutter zweier kleiner Kinder, Ehefrau und Studentin funktionieren, aber am Ende verließ sie die Universität von
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