Gehetzte Uhrmacher
zusetzen, bis wir zur Wahrheit vordringen.«
»Perfekt«, sagte Baker. Obwohl Rhyme anscheinend die Leitung innehatte, kam Dennis Baker wohl aus der Zentrale, folgerte Kathryn; er hatte den gequälten Blick eines Mannes, auf dessen Schultern diese Untersuchung letztendlich lastete – und der dafür die politische Verantwortung trug.
»Haben Sie eine Karte der Gegend, über die wir sprechen?«, fragte Dance. »Ich würde mich gern mit den Örtlichkeiten vertraut machen. Eine wirksame Vernehmung ist andernfalls kaum
möglich. Ich sage immer, ich muss das Terrarium der Person kennen.«
Lon Sellitto lachte auf. Dance lächelte ihn fragend an.
»Lincoln sagt genau das Gleiche über forensische Ermittlungen«, erklärte der Detective. »Wenn man die Örtlichkeiten nicht kennt, arbeitet man im luftleeren Raum. Richtig, Linc?«
»Verzeihung?«, fragte der Kriminalist.
»Terrarium, gefällt dir das?«
»Ah.« Sein höfliches Lächeln hatte ungefähr so viel zu bedeuten wie das »Jaja«, das Dances Sohn bisweilen von sich gab.
Dance sah sich die Karte von Lower Manhattan an und prägte sich das Umfeld des Tatorts ein. Dann ließ sie sich von Sachs und einem jungen Streifenbeamten namens Pulaski zeigen, welchen Weg Ari Cobb am gestrigen Abend angeblich genommen hatte.
»Okay, an die Arbeit«, sagte sie, als sie sich sicher genug fühlte. »Wo ist er?«
»In einem Zimmer am Ende des Korridors.«
»Bringen Sie ihn her.«
... Sieben
Gleich darauf führte ein uniformierter Beamter des NYPD einen kleingewachsenen, adretten Geschäftsmann ins Zimmer, der einen teuren Anzug trug. Dance wusste nicht, ob Cobb offiziell verhaftet worden war, aber die Art, auf die er seine Handgelenke berührte, verriet ihr, dass er bis vor kurzem noch Handschellen getragen hatte.
Dance begrüßte den Mann, der verunsichert und aufgebracht war, und bat ihn, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Sie setzte sich ihm gegenüber – zwischen ihnen stand nichts – und rückte ein Stück vor. Dabei blieb sie in einem neutralen Proximalbereich, wie unter Fachleuten der körperliche Abstand zwischen dem Befragten und dem Fragenden genannt wird. Dieser Bereich kann verändert werden, um das Befinden des Befragten positiv oder negativ zu beeinflussen. Dance saß weit genug weg, um nicht bedrohlich zu wirken, aber nicht so weit, dass Cobb sich sicher fühlen konnte. (»Es ist eine heikle Gratwanderung«, pflegte sie in ihren Vorträgen stets zu betonen.)
»Mr. Cobb, ich heiße Kathryn Dance. Ich bin Ermittlungsbeamtin und möchte mich mit Ihnen über das unterhalten, was Sie gestern Abend gesehen haben.«
»Das ist doch lächerlich. Ich habe denen da« – er nickte in Rhymes Richtung – »bereits alles gesagt.«
»Nun, ich bin gerade erst eingetroffen und habe Ihre vorherigen Auskünfte leider nicht mitbekommen.«
Sie stellte ihm eine Reihe einfacher Fragen und machte sich unterdessen Notizen – wo er wohnte und arbeitete, ob er verheiratet war und so weiter. Dabei hörte sie ihm aufmerksam zu und verschaffte sich so einen ersten Eindruck von seinen Stressreaktionen. (»Beobachten und Zuhören sind die beiden wichtigsten Teile der Befragung. Das Reden kommt erst an dritter Stelle.«)
Eine der ersten Aufgaben des Fragenden besteht darin, die Persönlichkeit
des Befragten in eine von zwei prinzipiellen Kategorien einzuordnen – introvertiert oder extrovertiert. Damit ist nicht das gemeint, was die meisten Leute darunter verstehen; es geht nicht um den Unterschied zwischen lebhaften und zurückhaltenden Charakteren, sondern darum, wie die Befragten ihre Entscheidungen treffen. Ein introvertierter Mensch wird eher von Eingebungen und Gefühlen beherrscht als von Logik und Vernunft; bei einer extrovertierten Person ist es genau entgegengesetzt. Die Zuordnung zu einer dieser beiden Gruppen hilft dem Fragenden, seine Worte entsprechend zu wählen, den richtigen Tonfall zu finden und ein geeignetes Verhalten an den Tag zu legen. Wer beispielsweise schroff und streng mit einem Introvertierten umspringt, wird nur erreichen, dass dieser sich in sein Schneckenhaus zurückzieht.
Ari Cobb jedoch war ein klassischer Extrovertierter und zudem arrogant – die Samthandschuhe durften im Schrank bleiben. Ein solches Gegenüber war genau nach Kathryn Dances Geschmack. Sie konnte bei den Befragungen richtig aus sich herausgehen.
Cobb fiel ihr ins Wort. »Sie halten mich schon viel zu lange fest. Ich muss zur Arbeit. Was mit diesem Mann passiert ist, ist nicht
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