Gehetzte Uhrmacher
Victor Hallerstein?«
»Ganz recht.« Er nahm seine Brille ab, an deren Seite ein zusätzliches Vergrößerungsglas angebracht war, und musterte Sellittos Dienstmarke. Dann lächelte er – wenngleich nur mit dem Mund und nicht mit den Augen – und reichte ihnen die Hand.
»Sind Sie der Eigentümer?«, fragte Dance.
»Jawohl, der Eigentümer. Außerdem der Chefkoch und der Tellerwäscher. Ich bin mit meinem Laden seit zehn Jahren in diesem Gebäude. Fast schon elf.«
Überflüssige Informationen. Oft ein Anzeichen für den Versuch einer Irreführung. Aber er hätte auch einfach nur verunsichert sein können, weil plötzlich zwei Polizisten aufgetaucht waren. Eine der wichtigsten Regeln der Kinesik lautet, dass eine einzelne Geste oder Äußerung sehr wenig bedeutet. Man kann eine Reaktion nur dann korrekt einschätzen, wenn man sie in einem größeren Zusammenhang sieht – falls ein Verdächtiger zum Beispiel die Arme verschränkt, muss man zugleich darauf achten, wohin er den Blick
richtet, wie er seine Hände bewegt und was er sagt, in welchem Tonfall und mit welcher Wortwahl.
Und um von Bedeutung zu sein, muss dieses Verhalten bei Wiederholung der Stimuli erneut auftreten.
Bei der kinesischen Analyse gehe es nicht um das Erzielen von Toren, sondern um ein durchgängig gutes Spiel, betonte Kathryn Dance in ihren Vorträgen.
»Was kann ich für Sie tun? Von der Polizei, ja? Hat es hier in der Gegend mal wieder einen Raubüberfall gegeben?«
Sellitto sah zu Dance, die nicht antwortete, sondern auflachte und sich umschaute. »Ich hab noch nie im Leben so viele Uhren auf einem Haufen gesehen.«
»Ich bin schon lange im Geschäft.«
»Stehen die alle zum Verkauf?«
»Machen Sie mir ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann.« Er lachte. Dann: »Nein, im Ernst, manche würde ich nicht verkaufen. Aber die meisten natürlich. He, das hier ist immerhin ein Laden, nicht wahr?«
»Die da ist wunderschön.«
Er sah zu der Uhr, auf die sie zeigte. Eine Jugendstiluhr aus goldfarbenem Metall, mit schlichtem Zifferblatt. »Eine Seth Thomas, hergestellt 1905. Geschmackvoll und zuverlässig.«
»Teuer?«
»Dreihundert. Das Gehäuse wurde in Massenproduktion gefertigt und ist bloß vergoldet... Wollen Sie mal was wirklich Teures sehen?« Er deutete auf eine Keramikuhr, rosa, blau und violett, bemalt mit Blumen. Dance fand sie entschieden zu bunt. »Fünfmal so viel.«
»Aha.«
»Ich verstehe, was Sie meinen. Aber auch unter Uhrensammlern sind die Geschmäcker verschieden.« Er lächelte. Seine Vorsicht und die Bedenken hatten sich nicht gelegt, aber Hallerstein war ein wenig zugänglicher geworden.
Kathryn runzelte die Stirn. »Was machen Sie um zwölf Uhr mittags? Sich die Ohren zuhalten?«
Er lachte. »Bei den meisten kann man das Geläut abstellen. Aber die Kuckucksuhren werden mich irgendwann noch verrückt machen.«
Sie stellte ihm noch ein paar Fragen über sein Geschäft und registrierte dabei all seine Gesten, Blicke, Stimmlagen und Worte – um einen grundlegenden Eindruck von seinem Verhalten zu gewinnen.
Schließlich fragte sie im Plauderton: »Sir, wir würden gern Folgendes wissen: Hat jemand kürzlich zwei Uhren wie diese gekauft?« Sie zeigte ihm die Aufnahme einer der beiden Arnold-Products-Uhren von den Tatorten. Während er das Foto mit neutraler Miene in Augenschein nahm, achtete Dance auf sein Gesicht und kam zu dem Schluss, dass er sich zu viel Zeit ließ, also vermutlich angestrengt nachdachte.
»Ich kann’s nicht mit Sicherheit sagen«, behauptete er. »Ich verkaufe eine Menge Uhren, das dürfen Sie mir glauben.«
Ein schlechtes Gedächtnis – ein Hinweis auf das Stadium der Verleugnung bei einem Befragten, der mehr weiß, als er zugibt, genau wie ein paar Stunden zuvor Ari Cobb. Er musterte noch einmal gründlich das Foto, um seine Hilfsbereitschaft zu demonstrieren, aber seine Schulter drehte sich leicht in Kathryns Richtung, sein Kopf senkte sich, und seine Stimme klang ein wenig höher. »Nein, da war nichts. Tut mir Leid, ich kann Ihnen nicht helfen.«
Sie spürte, dass er nicht die Wahrheit sagte, nicht nur aufgrund dieser letzten Reaktion, sondern auch weil sein neutraler Gesichtsausdruck beim Anblick des Fotos von seiner ansonsten expressiven Mimik abgewichen war; höchstwahrscheinlich kannte er die Uhr. Aber leugnete er diesen Umstand, um einfach nicht weiter behelligt zu werden oder weil er Uhren an jemanden verkaufte, den er für einen möglichen Verbrecher hielt? Hatte er
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