Gehetzte Uhrmacher
im Text. Ich will alles erfahren, was es über Fischeiweiß zu wissen gibt.«
Cooper setzte sich wieder an den Computer.
Da bemerkte Rhyme, dass Kathryn Dance auf die Uhr sah. »Haben Sie Ihr Flugzeug verpasst?«, fragte er.
»Mir bleibt noch eine Stunde. Aber es sieht nicht gut aus. Nicht bei all den Sicherheitskontrollen und dem vorweihnachtlichen Andrang.«
»Tut mir leid«, sagte der zerknitterte Detective.
»Wenn ich Ihnen helfen konnte, war es das wert.«
Sellitto nahm sein Telefon vom Gürtel. »Ich besorge Ihnen einen Streifenwagen. Die Jungs können Sie mit Blaulicht und Sirene in einer halben Stunde zum Flughafen verfrachten.«
»Das wäre prima. Ich könnte es noch rechtzeitig schaffen.« Dance zog ihren Mantel an und wandte sich zum Gehen.
»Warten Sie. Ich habe einen anderen Vorschlag.«
Sowohl Sellitto als auch Dance sahen den Sprecher an.
»Wie wäre es mit einer Gratisübernachtung im wunderschönen New York City?«, fragte Rhyme.
Dance zog eine Augenbraue hoch.
Der Kriminalist fuhr fort. »Ich frage nur, ob Sie wohl noch einen Tag bleiben könnten.«
Sellitto musste lachen. »Linc, ich glaube, ich höre nicht recht. Du klagst doch immer, Zeugen seien nutzlos. Hast du deine Meinung etwa geändert?«
Rhyme runzelte die Stirn. »Nein, Lon. Was ich bemängele, ist die Art, wie die meisten Leute mit Zeugen umgehen – intuitiv, aus dem Bauch heraus, dieser ganze sinnlose Bockmist. Kathryn hingegen macht es richtig – sie wendet eine Methode an, die auf wiederholbaren und wahrnehmbaren Reaktionen auf Stimuli basiert, und zieht daraus nachprüfbare Schlüsse. Natürlich ist das nicht so gut wie ein Fingerabdruck oder eine chemische Drogenanalyse, aber was sie tut, ist...« Er suchte nach einem Wort. »... hilfreich.«
Thom lachte. »Was für ein Kompliment! Hilfreich.«
»Um deinen Kommentar hat niemand gebeten, Thom«, fauchte Rhyme. Er wandte sich an Dance. »Also? Was meinen Sie?«
Der Blick der Frau fiel auf die Tafel. Rhyme sah, dass sie nicht etwa die nüchtern aufgezählten Fakten musterte, sondern die Bilder, vor allem die Fotos von Theodore Adams’ Leichnam, dessen gefrorene Augen nach oben starrten.
»Ich bleibe«, sagte sie.
Vincent Reynolds stieg langsam die Stufen des Metropolitan Museum an der Fünften Avenue empor. Als er oben ankam, war er außer Atem. Seine Hände und Arme waren sehr stark – was sich bei den Stelldicheins mit den Damen oft als günstig erwies -, aber er hatte keinerlei körperliche Ausdauer.
Joanne, sein Blumenmädchen, kam ihm in den Sinn. Ja, er war ihr gefolgt und hätte sie beinahe vergewaltigt. Doch in letzter Minute hatte eine weitere seiner Inkarnationen die Leitung übernommen: der smarte Vincent, der seltenste der Truppe. Die Versuchung war groß gewesen, aber er durfte seinen Freund nicht enttäuschen. (Vincent hielt es außerdem nicht für besonders schlau, einen Mann zu verärgern, dessen Ratschlag für Problemfälle lautete, ihnen die Augen aufzuschlitzen.) Also hatte er noch einmal nach ihr gesehen, ein gewaltiges Mittagessen verdrückt und dann die U-Bahn zum Museum genommen.
Nun zahlte er den Eintritt und ging hinein, wobei ihm eine Familie auffiel – die Frau ähnelte seiner Schwester. Erst letzte Woche hatte er ihr geschrieben und sie gebeten, über Weihnachten nach New York zu kommen. Die Antwort stand noch aus. Er würde ihr gern die Sehenswürdigkeiten zeigen. Im Augenblick konnte sie natürlich noch nicht kommen. Nicht, solange er und Duncan zu tun hatten. Aber er hoffte auf ihren baldigen Besuch. Vincent war überzeugt, dass es schön wäre, sie öfter um sich zu haben. Es würde seinem Leben eine gewisse Stabilität verleihen, sodass er nicht mehr so hungrig wäre. Dann müsste er sich auch nicht mehr ganz so häufig ein Stelldichein suchen.
Ich hätte wirklich nichts dagegen, mich ein wenig zu verändern, Dr. Jenkins.
Meinen Sie nicht auch?
Vielleicht würde sie zu Silvester herkommen. Sie könnten zum Times Square gehen und zuschauen, wie eine Minute vor Mitternacht die große Glitzerkugel herabgelassen wurde.
Vincent gelangte in das eigentliche Museum. Es bestand nicht der geringste Zweifel, wo er Gerald Duncan antreffen würde, nämlich in dem Teil des Gebäudes, der für bedeutende Wanderausstellungen reserviert war – zum Beispiel für die Schätze des Nils oder Schmuckstücke aus dem Britischen Empire. Die gegenwärtige Ausstellung trug den Titel »Horologie im Laufe der Jahrhunderte«.
Mit Horologie
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