Gehirnfluesterer
Sache ist.« Der Wirt: »Genau, warum lässt du die Scheiße nicht und
sagst diesem kurzen, fetten, glatzköpfigen, geizigen Mistkerl einfach die Wahrheit?«
Sie verstehen, was ich meine? Solche Äußerungen sind nicht gerade dafür geeignet, um zwischen den Zeilen zu lesen. Zwischen
den Zeilen steht nämlich nichts. Pinker betrachtete diese Situation jedoch anders: »Wir haben diese sprachlichen Strategien
vor allem entwickelt, um uns zu schützen. Und sie funktionieren. Aber sie sind auch lästig. Wenn sich also jemand entschließt,
die Regeln zu brechen und die Dinge beim Namen zu nennen – eben Schluss zu machen mit der ganzen Scheiße –, kann das, je nach Situation, durchaus eine Entlastung sein. Das ist die Basis, auf der zum Beispiel viele Witze funktionieren.
Weil wir die Vorstellungen von Höflichkeit teilen – ich weiß, dass Sie wissen, dass ich weiß, dass Sie die Regeln brechen –, besteht auch in solchen Situationen noch eine gewisse Sicherheit. Mir scheint, die Macht der extremen Beeinflussung liegt
darin, dass etwas Unerwartetes, Neues geschieht. In der Frische. Im Grunde ist es Beeinflussung dadurch, dass wir die ganze
Scheiße einfach lassen.«
Das gefiel mir gut. Pinker führte mich aus einer Sackgasse. Ironischerweise sind genau diese Implikaturen, die wir entwickelt
haben, mit ein Grund für die magische Wirkung des Gehirnflüsterns. Denn es läuft auf dasselbe hinaus. Gerade weil wir uns
alle so viel Mühe geben, einander nicht zu verletzen, fegt der linguistische Tabubruch wie ein frischer Wind durchs Gehirn.
Auch Pinkers Argument führt uns wieder zu den Psychopathen. Kein Wunder, dass sie Großmeister der Überzeugung sind. Was immer
Starling von Hannibal Lecter dachte – und de facto war er nicht so höflich –, genau darin sind sie gut. Wie wir gesehenhaben, finden Psychopathen überhaupt nichts dabei, Regeln zu brechen. Ihre Impulsivität und ihr elektrisierendes Charisma
machen für sie den Einsatz des Überraschungseffekts, der Inkongruenz, zur zweiten Natur. Wenn es hart auf hart kommt und eine
Situation außer Kontrolle gerät, gehen sie wieder auf Start und kümmern sich nicht um die Regeln. Sie achten auf das Ergebnis
und nicht auf die Mittel. Oder, wie es einer der größten Linguisten der Welt formulierte: Sie lassen die Scheiße einfach.
Killer-Instinkt
Stellen Sie sich vor, ich zeige Ihnen auf einem Bildschirm 64 Karten, eine nach der anderen. Auf jeder Karte ist eine zweistellige Zahl aus dem Zahlenraum bis hundert zu sehen. Das Kartenset
enthält insgesamt acht dieser zweistelligen Zahlen, jede von ihnen erscheint im Verlauf des Blätterns also acht Mal. Ihre
Aufgabe ist einfach: Sie sollen herausfinden, welche der Zahlen auf das Anschlagen der x-Taste, welche auf das der y-Taste
reagiert. Unangenehm allerdings ist, dass Sie jedes Mal, wenn Sie einen Fehler machen, einen Stromstoß erhalten werden. Wie,
glauben Sie, werden Sie damit zurechtkommen?
Dies ist der Aufbau eines Experiments, das der Psychologe Adrian Raine und seine Kollegen an der University of Southern California
in Los Angeles durchgeführt haben: mit erstaunlichen Ergebnissen.
Wenn Sie so sind wie die meisten Menschen, werden Sie die »Regel« rasch entdecken: x-Taste = ungerade Zahlen, y-Taste = gerade
Zahlen. Nachdem Sie einmal einen Stromschlag erhalten haben, werden Sie so schnell keinen zweiten mehr wollen.
Es sei denn, Sie sind ein Psychopath. Bei solchen Tests – man nennt die Aufgabe
passives
Vermeidungslernen – machen Psychopathen immer wieder mehr Fehler als der Rest von uns. Die Furcht vor Strafe, die Aussicht
auf Schmerzen oder Unbehagen scheint sie nicht so zu tangieren wie Sie und mich. Es lässt sie wohl ziemlich kalt.
Ergebnisse wie diese könnten darauf verweisen, dass Psychopathen »nicht interessiert« sind, so als würde sie ihr fehlender
Mangel an Gefühlen quasi »ausschalten«. Auf den ersten Blick wirkt das plausibel.
Doch betrachten wir ein anderes Szenario. Stellen wir uns einen genau gleichen Versuchsablauf vor – die gleichen Karten, Zahlen,
Elektroschocks. Wenn Sie jedoch dieses Mal Ihre Aufgabe richtig lösen, dann vermeiden Sie nicht nur die Bestrafung, sondern
erhalten sogar eine Belohnung: fünf Dollar pro Treffer. Meinen Sie, das könnte einen Unterschied machen? Dass Sie die Regel
noch schneller herausfinden werden? Die meisten Menschen glauben das. Die Elektroden wirken. Aber die Chancen der
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