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Gehirnfluesterer

Gehirnfluesterer

Titel: Gehirnfluesterer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Dutton
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der Nähe und nicht in der Ferne schweifende
     Killer.
    Aber das Weinen eines Babys bewirkt noch mehr als den Hinweis darauf, wo es sich befindet. Zusätzlich dazu löst es bei den
     Bezugspersonen einen physiologischen Reflex aus: der Herzschlag steigt, es folgt rasche Bewegung (verbunden mit sofortigem
     Handeln), die Temperatur in den Brüsten der Mutter steigt, der Milchfluss wird angeregt. Die Brüste fühlen sich schwer an
     und befördern den Stillreflex.
    In den Tagen unserer Vorfahren war der Schrei eines Babys der ultimative Notruf. Von seiner Frequenz her liegt das Weinen
     eines Säuglings nicht an der Spitze der unangenehmen akustischen Reize. 1 Der Ton ist hoch genug, um nicht allzu weit zu tragen, und tief genug, um keine Aggression hervorzurufen. Dennoch geht einem dieses Geräusch seltsamerweise auf die Nerven. Es steht bei allen ganz oben auf der Liste der unangenehmen Geräusche,
     bei Männern und Frauen, bei Eltern und Kindern. Es erzeugt Angst, Stress und das dringende Bedürfnis zu helfen.
    Kerstin Sander vom Leibniz-Institut für Neurobiologie in Magdeburg hat 2007 präzise demonstrieren können, wie tief Säuglingsgeschrei
     tatsächlich dringt. Sander spielte einer Gruppe von achtzehn Erwachsenen (neun Männern und neun Frauen) das Schreien von vier
     Säuglingen vor und zeichnete die Gehirnreaktionenihrer Probanden mit einem Magnetresonanztomografen auf, dem Nachtsichtgerät der Neurobiologen. Dann zerschnitt sie die Tonaufzeichnungen
     in Segmente von 150   Millisekunden, setzte die Fragmente neu zusammen und spielte den Probanden auch diese Bänder vor. Sie verglich die Reaktionen.
     Würde das einen Unterschied machen? Würden die Muster der Hirnaktivitäten sich verändern oder gleich bleiben?

    Das Ergebnis belegt die geniale Choreographie der natürlichen Auslese. Sowohl in der Amygdala, der zentralen Verarbeitungsstation
     der Gefühle im Kernbereich des Gehirns, wie auch im präfrontalen Cortex (dem Teil des Gehirns, der auf Normabweichungen reagiert)
     war die Aktivität erheblich höher, wenn die echten Schreie vorgespielt wurden. Und besonders bei den weiblichen Versuchspersonen,
     was, so Sanders, darauf hinweisen könnte, dass Frauen eine spezifische neuronale Prädisposition zur Reaktion auf nichtverbale
     Äußerungen von Säuglingen besitzen.
    links oben – Aktivierte Areale im Gehirn einer Frau, wenn sie einen Erwachsenen weinen hört
    rechts oben – Aktivierte Areale im Gehirn einer Frau, wenn sie ein Kind weinen hört
    unten – Aktivierte Areale im Gehirn eines Mannes, wenn er ein Kind weinen hört
    Eine echte Überraschung erlebte Kerstin Sander, als sie die Amygdala-Aktivitäten, die durch natürliches Säuglingsgeschrei
     ausgelöst werden, mit denen verglich, die das natürliche Weinen Erwachsener hervorruft: Bei Säuglingsgeschrei lag die Amygdala-Reaktion
     900   Prozent höher. Das Weinen eines Säuglings ist keineswegs so simpel, wie man zunächst meinen möchte.
    Wenn der falsche Ton auf den richtigen trifft
    Noch ist es so gleichförmig. Weitere Forschungen haben Folgendes ergeben: Die präverbalen Äußerungen von Kleinkindern erhöhen
     die Aktivität der Amygdala in jedem Fall. Die meisten Gefühle jedoch werden freigesetzt, wenn sich die Tonlage des Schreiens
     plötzlich, dramatisch und unerwartet ändert. Solche Veränderungen lösen bei den Bezugspersonen die mächtigsten affektiven
     – samt dazugehörigen physiologischen – Reaktionen aus.
    Ähnlich ist es übrigens beim Musikhören. Nicht die vorhersagbare Auflösung von Akkorden, sondern plötzliche Veränderungen
     sind es, die die intensivsten Gefühlsregungen auslösen, die uns einen Schauer über den Rücken laufen lassen und dieses unverwechselbare
     Prickeln hervorrufen. Das Gleiche gilt für die Komödie: Nicht das Erwartete macht uns lachen, sondern die begeistert erlebte
     Schmach des In-die-Irre-geführt-Werdens, das, wenn man so will, Gegenteil der sogenannten Bekanntheitstäuschung, des Déjà-vu.
    Zur Illustration folgendes Beispiel: Paul Rozin und seine Kollegen von der University of Pennsylvania haben auf ein Muster
     aufmerksam gemacht, das in vielen Witzen auftaucht.
     
    (A1) Einige Männer sollen erschossen werden. Die Wache bringt den ersten, der kommandierende Offizier fragt nach seinen letzten
     Wünschen. Der Mann hat keine, der Offizier ruft: »Achtung. Legt an!«
    Plötzlich schreit der Mann: »Erdbeben!«
    Alle schauen sich erschrocken um. In der allgemeinen Verwirrung

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