Gehirnfluesterer
kann der Mann fliehen.
(A2) Der nächste Todeskandidat wird hereingeführt, auch er hat keine letzten Wünsche. Der Offizier ruft: »Achtung. Legt an!«
Plötzlich schreit der Mann: »Wirbelsturm!«
Alle schauen sich erschrocken um. In der allgemeinen Verwirrung kann der Mann fliehen.
(B) Der letzte Kandidat hat sich alles genau überlegt. Die Wache bringt ihn herbei, er wird nach seinem letzten Wunsch gefragt,
er hat keinen und der Offizier ruft: »Achtung! Legt an!«
Der Mann ruft: »Feuer!«
Dieser Witz funktioniert über die Doppeldeutigkeit des letzten Wortes in Teil B. Man erwartet eine weitere Warnung vor einem Unglück, doch das Wort, das dann fällt, hat noch einen anderen, fatalen Sinn.
Auch in der Musik gibt es diese Folge AAB:
Die Reihe AAB im Eingangsthema von Mozarts KlaviersSonate in A-Dur , KV 331, 1. Satz (Andante grazioso), Takte 1 – 4.
Hier werden die fünf Noten des ersten Themas (A1) zunächst einen Ton tiefer wiederholt (A2), in der dritten Wiederholung (B)
jedoch, nochmals tiefer, wird auch die Abfolge der Noten variiert. Solche Umkehrungen finden sich in vielen musikalischen
Genres, in der klassischen und der modernen Musik, genauso in Jazz und Rock. Und sie bilden natürlich die Basis zahlloser
Witze nach dem Muster »ein Engländer, ein Schotte, ein Ire …« oder »ein Priester, ein Pfarrer, ein Rabbi …«. Auch in der Dichtung gibt es diese Form der Variation. Ist ein solches Durchbrechen von Erwartungen, also deren bewusste
Enttäuschung, eine universelle Regel der Beeinflussung? Durchaus möglich. Auch Charles Darwin wird dies im Sinn gehabt haben,
als er sein Prinzip der Gegensätzlichkeit formulierte. Die Umkehrung eines Musters ist eine integrale Figur in den Versöhnungsgesten
des Tierreichs und auch, wie wir im vorangegangenen Kapitel sahen, bei uns Menschen.
Musik, schreibt V. S. Ramachandran vom Centre for Brain and Cognition der University of California, Musik »hat möglicherweiseetwas zu tun mit der Verschiebung von Spitzenreizen (
peak shifts
), wie man sie in manchen primitiven, leidenschaftlichen Vokalisierungen von Primaten wiederfindet, zum Beispiel im Trennungsschrei.
Die emotionale Reaktion auf solche Laute könnte in unserem Gehirn fest verdrahtet sein.«
David Huron geht in seinem Buch ›Sweet Anticipation: Music and the Psychology of Expectation‹ (Süße Vorahnung. Musik und die
Psychologie der Erwartung) einen Schritt weiter: »Menschen und andere Tiere bilden, um zu überleben, Erwartungen, denn nur
indem wir die Zukunft voraussagen, können wir uns auf sie einstellen. Weil das Gehirn sicherstellt, dass eine zutreffende
Voraussage belohnt wird, fühlen wir uns gut, wenn wir richtigliegen. Die Verbindung von Voraussage und Belohnung veranlasst
uns, beständig Strukturen herauszufinden und vorauszusagen, wie sich die Dinge entwickeln werden. Als eine sich in der Zeit
entwickelnde Textur ist Musik ein Superreiz für solche Erwartungen.«
Mit anderen Worten: Wenn Erwartungen enttäuscht werden, wird unser Gehirn zu einer Reaktion veranlasst. Es will das Gleichgewicht
wiederherstellen, die unangenehmen Gefühle, die eine solche Enttäuschung begleiten, auslöschen. Auch in den Künsten, in Musik
oder Literatur etwa, sind unangenehme Gefühle Teil des Spiels: Wir lassen die Behaglichkeit des Lehnstuhls, die Sicherheit
des ersten Rangs hinter uns, geben uns in die Hand des Dichters oder Komponisten.
In anderen Bereichen des Lebens verhalten wir uns nicht so nachsichtig. Wenn ein Ereignis oder ein Reiz unserer Erwartung
widerspricht, sind wir gezwungen, etwas zu unternehmen. Entweder wir bezweifeln den Reiz, löschen ihn aus oder wir bewerten
unsere Lage neu. Und aus diesem Grund ist es praktisch unmöglich – insbesondere für Bezugspersonen –, das Geschrei eines Säuglings zu ignorieren. Das Geschrei selbst erzeugt nicht nur unangenehme Gefühle, es dringt auch in
tiefere Schichten unserer Gefühlsstruktur vor.
Die Schöne und das Biest
Man sieht sie schon von weitem, die Typen, die mit ihren Klemmbrettern Fußgängerzonen unsicher machen. Aus irgendeinem Grund
erwischen sie einen immer dann, wenn man es besonders eilig hat: »Haben Sie ein paar Minuten Zeit, nur ein paar Fragen …« Manche von uns haben regelrechte Fluchtstrategien entwickelt, einen Hustenanfall, der nicht aufhört, den Griff nach dem
Handy, das Auftauchen eines imaginären Bekannten auf der anderen
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