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Gehirntraining - Ueber Die Benutzung Des Kopfes.

Titel: Gehirntraining - Ueber Die Benutzung Des Kopfes. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schirrmacher
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nicht vorhandene Willensfreiheit diskutiert wird, andererseits dann aber - wenn es ums Lernen geht - von einer beinahe grenzenlosen (Selbst-)Manipulierbarkeit des Gehirns ausgegangen wird.
    Die speziellen Konstruktionsfehler des »hirngerechten Lernens« liegen in der Auswahl und Interpretation neurowissenschaftlicher Erkenntnisse. Da gibt es beispielsweise die sogenannte Edu-Kinestetik, die sich bei Lehrern und Eltern großer Beliebtheit erfreut, verspricht sie doch diverse pädagogische Probleme zu lösen. Den Dreh- und Angelpunkt der Edu-Kinestetik bildet die Überzeugung, dass eine gestörte Kommunikation zwischen rechter und linker Hirnhälfte für Lernschwierigkeiten aller Art verantwortlich sei.
    Die These der Edu-Kinestetiker lautet: Während die linke, rationale Hirnhälfte in unseren Schulen permanent überfordert werde, verkümmere die rechte Hirnhälfte mit
ihren kreativen und emotionalen Fähigkeiten. Schlussendlich würden beide Hirnhälften nicht mehr miteinander kommunizieren, und daraus resultierten Lernfrust und Gedächtnisschwäche. Die Lösung sollen »Hemisphärenintegrationsübungen« bringen, besser bekannt unter dem Namen »Brain-Gym«; das sind gymnastische Übungen, bei denen die »Mittellinie« des Gehirns überquert werde und somit beide Hirnhälften gezwungen seien, wieder zu interagieren.
    Edu-Kinesteten beteuern die neurowissenschaftliche Fundierung ihres Konzepts, doch ihre wenigen Verweise sind ebenso krude wie sachlich falsch. Einige ziehen die Split-Brain-Untersuchungen des Neurologen Roger Sperry heran, um ihrer Behauptung von autonom arbeitenden Hirnhälften und daraus resultierenden Integrationsstörungen Nachdruck zu verschaffen. Problematisch nur, dass Sperry selbst vor der Verallgemeinerung seiner Ergebnisse gewarnt hat: Er hatte schweren Epileptikern in den Sechzigerjahren die Verbindung - den sogenannten Balken - zwischen beiden Hirnhälften durchtrennt, um die Ausbreitung eines Anfalls von der einen auf die andere Hemisphäre zu verhindern. In der Folge zeigten seine Patienten in experimentellen Situationen bestimmte kognitive Ausfälle.
    Ein durchtrennter Balken ist aber nicht der hirnanatomische Normalfall: Menschen, auch solche, denen das Lernen schwerfällt, verfügen über eine intakte Verbindung zwischen den Hirnhälften. Es mag sein, dass Brain-Gym-Übungen - wie andere Bewegungsübungen - Grundschulkindern gut gefallen, die theoretischen Annahmen
der Edu-Kinestetik sind jedoch unhaltbar, und deshalb ist der Boom dieser Konzeptionen, insbesondere im Bereich der Lehrerfortbildung, bedenklich.
    Die Konstruktionsfehler anderer Ratgeber sind schwieriger nachzuweisen, denn neurowissenschaftliche Erkenntnisse werden dort etwas subtiler zur Stützung bestimmter Sichtweisen angeführt. Das bedeutet allerdings nicht, dass die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen weniger falsch wären. Ein typischer Topos in der Literatur zur Frühförderung ist etwa der vom Hans, der nimmermehr lernt, was Hänschen nicht gelernt habe. Mit Verweis auf »sensible Phasen«, »Entwicklungsfenster« und »synaptische Plastizität« wird eine intensive frühe Förderung angemahnt. Die wichtigsten Schritte in der Hirnentwicklung vollzögen sich nicht nachholbar innerhalb der ersten drei Lebensjahre. Die empfohlenen Maßnahmen reichen von der Darbietung bestimmter Spielzeuge und Musikstücke bis hin zu Englischkursen für Babys.
    Als neurowissenschaftliche Referenz dienen den Autoren insbesondere Deprivationsexperimente. In solchen Experimenten werden den Versuchstieren bestimmte Erfahrungen vorenthalten, oder aber ihre Umwelt wird reizarm ausgestattet. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass eine frühe Deprivation oder eine reizarme Umwelt negative Auswirkungen auf die Hirnentwicklung der Tiere haben. Allerdings ist die Übertragung dieser Ergebnisse auf Menschen heikel: Man kann in solchen Experimenten nur vergleichsweise einfache Entwicklungsprozesse untersuchen und daraus zwar Aussagen über entwicklungshemmende Faktoren gewinnen, keineswegs kann man jedoch
im Umkehrschluss daraus ableiten, welche Faktoren sich nun besonders positiv auswirken.
    Als nützlich erweist sich in diesem Kontext die Unterscheidung von erfahrungsheischendem und erfahrungsabhängigem Lernen, wie sie etwa der Entwicklungspsychologe John T. Bruer vornimmt. Beim erfahrungsheischenden Lernen spielen kritische Phasen tatsächlich eine wichtige Rolle (etwa wenn es um binokulares Sehen oder andere grundlegende sensorische

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