Gehwegschäden
traditionell konservativ ist. Juden. Genauer gesagt jüdische Senioren, die dort ihren Lebensabend genießen. Die sind nicht gerade geneigt, einen Schwarzen zum Präsidenten zu wählen. Also hat sich Obamas Team die User zunutze gemacht. Sie haben die jungen Juden in Chicago, in New York, im ganzen Land angesprochen, die fast alle auf seiner Seite waren. Es war eine Frau. Sarah Silverman. Sie hat im Internet in einem Video eine einfache Frage gestellt: Wenn Ihr wüsstet, dass ein Billigflug nach Florida die Welt verändert, würdet Ihr es tun? Das hat ihre Neugier geweckt. Sie hat allen jungen Juden gesagt, sie sollen nach Florida fliegen und ihre Omas und Opas und Tanten und Onkels davon überzeugen, dass Obama kein Juden hassender Terrorist ist, dass es um die Zukunft ihrer Enkel geht und dass sie nie wieder nach Florida fliegen würden, wenn sie nicht Obama wählen. Das hat ihre Kreativität herausgefordert. Es war wie ein Spiel.«
»Und das hat funktioniert?«
»Das hat funktioniert. 24 000 Leute sind nach Florida geflogen. Die Aktion hieß: The Great Schlep. Das ist ein jiddisches Wort und bedeutet in dem Zusammenhang so viel wie: die Ochsentour. Sie trugen T-Shirts und Buttons mit diesem Label, es gab Aufkleber und Jutetaschen, das volle Programm. Die jungen Juden haben das alles dokumentiert und wieder im Netz gepostet und wieder neue Leute rekrutiert. Obama hat Florida gewonnen. Mit 78 Prozent aller jüdischen Stimmen. Die waren das Zünglein an der Waage. Auch ’ne Latte?«, fragte der Mann mit dem Irokesen. Er stand auf und schickte sich an, in das Café hineinzugehen.
»Äh ja, danke«, sagte Thomas und sah sich um, ob er Sandra schon irgendwo auf ihrem Fahrrad erkennen konnte.
Eine Weile saß er allein da.
»Interaktivität.«
»Was?«
Thomas drehte sich um.
Der Typ mit dem gelben Irokesen brachte zwei Glas Milchkaffee, stellte sie auf die Tische und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als würde er ein Kunststück vollführen.
»Kreativität. Interaktivität. Prosumer. Die Zauberworte.« Jascha setzte sich an seinen Computer.
»Das Produkt ist ein Monstertruck, Unterwäsche, ein Jeanslabel oder der amerikanische Präsident. Das Produkt spielt keine Rolle. Meinung oder Money, ganz egal. Der User ist wichtig, denn er soll das Produkt kaufen, in die Gesellschaft hineintragen und dort weiterverarbeiten und weiterverbreiten. Kunst? Bullshit. Machen wir selbst. The medium is the message, merk dir den Satz! Es gibt keine Trennung mehr zwischen Consumer und Producer. Wir sind alle Prosumer. Jeder. Wir sind die total vernetzte Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Wir alle transportieren die Energy, den Flow! Der Flow lässt sich nicht mehr aufhalten.«
Thomas hörte dem Mann von Prometheus jetzt aufmerksam zu.
Prometheus, Lehrmeister. Der war irgendwo in der griechischen Mythologie so ’n Macker. Der Titan kam auf die Erde und formte die Menschen aus Ton. Linear Sculpting. So was. Er übertrug ihnen Eigenschaften der Tiere: die Klugheit des Hundes, den Fleiß des Pferdes. Und die Göttin Athene gab ihnen Wissen und Vernunft. Da wurden die Menschen lebendig, und Prometheus ihr Pauker. Heute ist er Sammler. Er sammelt unwichtige Erkenntnisse und nutzloses Wissen, er kommentiert alles Mögliche und stellt es ins Netz. Er formt die Gesellschaft. Social Sculpting nennt er das. Er sammelt Literatur- und Medienpreise, er sammelt binäre Lösungen und Geld. Er ist eine Internet-Ich-AG. Er ist vernetzt mit anderen Internet-Ich-AGs und vermarktet sich selbst. Der Sinn seines Schaffens besteht darin, Werbung zu transportieren.
»Wer die Website einer Biermarke anklickt, kann den besten Witzeerzähler der Welt herunterladen. Wart mal.«
Der Mann mit dem gelben Irokesen war in voller Fahrt. Er fasste in seine Jacketttasche und holte ein flaches Bildschirmhandy hervor. Er gab etwas ein. Kurz darauf hielt Jascha sich das Smartphone mit der Bildschirmseite nach vorn quer vor den Mund. Auf dem Bildschirm erschien ein Mund, der sich bewegte und etwas erzählte. Der Mund, den sich Jascha vor den Mund hielt, erzählte einen Witz.
»Was sind tausend tote Anwälte?«, fragte der Mund.
»Ein guter Anfang«, antwortete der Mund.
Der Mund lachte.
»Genial, wa?«, jubilierte Jascha, wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete den lachenden Mund auf seinem Handy. »Die Witze sammeln wir, geben die Mundaufnahmen in Auftrag und stellen sie auf die Biersite. Jeden Tag neue Updates. Oder das hier
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