Geister-Dämmerung
hockte und die ich auch vom Boden her gesehen hatte, war so breit, dass sie sogar überhing.
Ich kletterte noch einen großen Schritt höher, streckte danach beide Arme aus, so dass es mir gelang, die Kante der überhängenden Plattform zu fassen. Hoffentlich hielt sie auch… Ich testete die Haltbarkeit, in dem ich ein paar Mal ruckte. Nichts knirschte oder bröckelte ab. Der Stein war so fest, als schien er für die Ewigkeit gewachsen zu sein.
Ein Klimmzug brachte mich hoch. Und der strengte verdammt an. Ich hatte das Gefühl, als würden sich dabei meine Arme aus den Schultergelenken lösen. Ich keuchte und hatte zudem das Gefühl, als würde sich die Platte mir entgegensenken. Aber sie hielt, und ich brachte es fertig, mein angewinkeltes Bein auf sie zu legen. Den Oberkörper schob ich nach, keuchte und hörte das Echo der Herzschläge in meinem Kopf. Geschafft!
Den Rest kroch ich vor, bis ich fast die dicht zusammengestellten Füße des Sehers erreichte. Auf dem Bauch blieb ich liegen. Ausgepumpt, leer, schweratmend. In meinem Hals spürte ich ein trockenes Gefühl. Meine Muskeln zitterten, ich brauchte die Erholung, auch wenn mich die Sucht nach dem Seher überschwemmt hatte. Aber es gibt gewisse Voraussetzungen, die müssen erst erfüllt sein.
Ich brauchte meine Energie und stellte fest, dass sie wieder zurückkehrte.
Langsam drückte ich mich hoch. Zwar zitterten meine Armgelenke noch immer nach, das aber ließ sich ertragen. Aus der Hocke gelangte ich in die Senkrechte, drückte meine Schultern nach hinten und reckte mich, um die Geschmeidigkeit meines Körpers zu überprüfen. Es klappte alles…
Dann schaute ich auf den Seher. Vom Boden her hatte er größer ausgesehen. Jetzt erkannte ich, dass er ungefähr meine Größe besaß, auch wenn er saß. Ich konnte ihn anfassen und schaute ihm dabei ins Gesicht.
Es waren die gleichen Züge, wie ich sie kennen gelernt hatte, wenn er sich aus dem Zwischenreich meldete. So weich und gleichzeitig streng. Das lange Haar, die Augen, der Bart, überhaupt die gesamte Erscheinung, die mich so faszinierte, weil sie in meinen Augen alterslos wirkte. Ich konnte mich nicht erinnern, bei einem Menschen schon einmal so etwas erlebt zu haben.
Und doch störte mich einiges. Es war die Bewegungslosigkeit des Sehers. Er hatte mich bemerkt und sprach mich trotzdem nicht an. Ich versuchte es. Zweimal räusperte ich mich, bevor ich es schaffte, die entsprechenden Worte zu formulieren. »Du siehst, dass ich hier bin, Seher. Ich bin zu dir gekommen. Du hast mir oft geholfen. Spring auch diesmal über deinen Schatten und gib mir einen Rat.«
Der Seher rührte sich nicht. Als Einsamer auf einem ebenfalls einsam stehenden Felsen blieb er sitzen und schaute in die Weite des düsteren Landes hinein, das sich Pandämonium nannte. Vielleicht hatte er meine Worte nicht hören wollen. Möglicherweise sollte ich deutlicher werden, und das tat ich auch.
Ich zögerte noch ein wenig damit, ihn zu berühren. Irgendwie kam ich mir nicht reif genug vor, mit einer solchen Gestalt und einem so mächtigen Wesen Hautkontakt aufzunehmen.
Leider gab es keinen anderen Weg, so streckte ich den Arm aus, um meine Finger auf seine Hände zu legen. Kontakt - und meine erschreckende Erkenntnis.
Der Seher, vor dem ich stand, war weder ein Mensch noch ein Geist. Er war eine Figur aus Stein!
Erst die freudige Überraschung beim Anblick des Sehers, nun dieser verdammte Tiefschlag. Ich krümmte mich, als hätte ich diesen Treffer mitbekommen. Hätte mich jetzt jemand etwas gefragt, ich wäre wohl kaum in der Lage gewesen, eine Antwort zu geben.
Ich stand auf der Plattform, meine Hand lag auf seinen Händen, und ich kam mir vor wie der große Verlierer. Dieses Gefühl wollte einfach nicht weichen. Es hatte sich in meinem Innern festgesetzt. Meine Augen brannten, und Tränen rannen an meinen Wangen herab, so tief steckte die Enttäuschung in mir.
Aber er hatte doch mit mir gesprochen. Mir waren die Worte akustisch entgegengeweht und nicht in Gedanken, wie sonst. Diesmal hatte ich tatsächlich geglaubt, es geschafft zu haben, und da war dieser Seher aus Stein.
Ich löste meine Hände von seinen und untersuchte die Figur weiter. An den Beinen fasste ich sie an, reckte mich, um auch die Schultern zu erreichen, erfasste das Haar und wollte es durch meine Finger gleiten lassen, aber es war ebenfalls zu Stein geworden und kam mir vor wie brüchiger Draht.
Meine Arme sanken nach unten. Gleichzeitig hob ich den
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