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Geisterblumen

Geisterblumen

Titel: Geisterblumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Jaffe
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Schlucht gesprungen war.
    »Du kannst es im Internet nachlesen«, sagte er.
    »Aber was ist mit eurer Cousine?«
    Er schüttelte den Kopf und schaute auf seinen Teller. »Wir nehmen an, Aurora ist weggelaufen, weil Lizas Tod sie so erschüttert hat. Unsere Großmutter hat eine Belohnung ausgesetzt und Privatdetektive die Gegend um Tucson absuchen lassen; später weitete sie den Radius aus, aber niemand konnte sie finden.«
    »Wäre sie wirklich von zu Hause weggelaufen, weil ihre Freundin sich umgebracht hat?« Ich leckte Himbeermarmelade von der Messerklinge.
    »Ein Glück, dass Bridgette nicht hier ist. Das würde ihr nicht gefallen«, sagte Bain und deutete auf das Messer, das schon auf halbem Weg zurück ins Marmeladenglas war. Als ich vorhin heruntergekommen war, hatte sie zu meiner Erleichterung bereits das Haus verlassen. Etwas an ihr machte mich nervös.
    Ich legte das Messer weg und faltete wie eine brave Schülerin die Hände.
    Bain rieb sich das Handgelenk, wobei er die Augen auf die Tür hinter mir gerichtet hielt, als schaute er in die Vergangenheit. »Die beiden waren beinahe unzertrennlich, bildeten eine Einheit. Sie hatten kaum etwas mit den anderen in ihrer Klasse zu tun, Ro jedenfalls nicht. Ich glaube, Liza war beliebter. Und obwohl Ro immer so selbstsicher und souverän wirkte, hatte im Grunde Liza das Sagen. Ro brauchte Liza, ihre Zustimmung, ihre Führung. So kam es mir jedenfalls vor«, fügte er hinzu und stellte seine Äußerung damit in Frage. Ich überlegte, ob er die Risse in Ros selbstsicherer Fassade bemerkt hatte, weil er sie aus eigener Erfahrung kannte. »Also, ja, Lizas Tod muss sie schwer getroffen haben. Wirklich schwer.«
    Ich nahm einen wohlerzogenen Biss von meinem Toast. Auf der Butter stand »importiert«, und die Marmelade war eine besondere Sorte mit einem wie handgeschriebenen edlen Etikett. Beides zusammen schmeckte, als würden frisch gepflückte Himbeeren auf meiner Zunge explodieren. Dazu das knusprige Brot aus Sauerteig. Ein unglaublicher Geschmack, der mich sogar von unserem Gespräch ablenkte.
    »Offiziell ist Aurora also weggelaufen, weil sie so verstört war? Klingt irgendwie feige.«
    Das gefiel ihm nicht. Er wirkte plötzlich angespannt. »Du hast sie nicht gekannt. Es muss etwas passiert sein.«
    »Und was? Was ist denn passiert?«
    Er sah wieder nach unten, auf seinen Teller. »Keine Ahnung. Es gibt eine Menge Theorien – Kojoten, Entführer.« Er schob den Stuhl von der Theke weg und stand auf, bewegte sich wie ein gereiztes, eingesperrtes Tier. »Eins weiß ich genau: dass sie entweder gestorben ist oder schwer traumatisiert war und deswegen weggelaufen ist.« Er trug sein Gedeck zur Spüle. »Du kannst also behaupten, du hättest das Gedächtnis verloren. Das Trauma hätte alle Erinnerungen ausgelöscht. Aber
das da
musst du trotzdem lernen.«
    »Das da« waren fünf riesige Aktenordner voller Informationen über Aurora.
     
    Die nächsten Wochen verbrachte ich in einem Kokon, der nach Kiefern und Lavendel duftete. Aurora zu werden, bedeutete nicht nur, die Fakten über sie zu kennen; ich musste die Gabel wie sie benutzen, einen gegrillten Fisch zerlegen können und erkennen, wann eine Fingerschale angebracht war. Ich musste mich daran erinnern, dass Aurora Höhenangst hatte, und mir eine gute Entschuldigung dafür überlegen, dass ich, anders als sie, weder Klavier noch Tennis spielte und nicht mit wilden Pferden umgehen konnte.
    Aurora war ein Mädchen, das aus den Erinnerungen anderer Menschen bestand, und ich stahl mich in ihr Leben wie Frankenstein. Denn das vergaßen Mädchen wie Bridgette gern – dass die Geschichte von
My fair lady
, in der ein Professor eine Dame erschafft, im Grunde der Erschaffung eines Ungeheuers gleicht.
    Wir fingen mit Lernkarten an. Auf einer Seite waren Fotos von Freunden oder Verwandten abgebildet, auf der anderen standen wichtige Angaben – lebendig oder tot, Verbindung zu Aurora, wesentliche Fakten, Kontostand. Dutzende von Leben, Jahre voller Schmerz und Leid und sorgsam gezähmter Emotionen, von Bridgette eingedampft auf drei Zeilen Text.
    Irgendwie war es beruhigend und unheimlich zugleich, dass alles den gleichen Wert zu haben schien: »sammelt Fossilien« unterschied sich nicht von »stritt mit Bruder beim Vatertagsessen« oder »beging Selbstmord«. Es erinnerte an die Rohzeichnung eines gewaltigen Altargemäldes, mit der Heiligenprozession am Rand, bloße Umrisse, die mit Holzkohle skizziert waren, und Maria

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