Geisterblumen
sie betrachtete das Mädchen neben sich. Das Mädchen war hübsch, mit goldenem Haar, das ihr Gesicht wie ein Strahlenkranz umgab, Porzellanhaut und riesengroßen, blauen Augen. Sie wirkte sanft, und anders als bei Aurora passte das Kostüm überhaupt nicht zu ihr. Sie sah aus wie eine Puppe, die jemand verkleidet hatte, doch ihr Lächeln war freundlich und offen. Ich könnte mir gut vorstellen, mit ihr zu essen, stundenlang zu reden, auf einer Picknickdecke zu liegen und nach oben in die Wolken zu schauen, während wir dumme Witze reißen. »Das ist Liza«, sagte Bain. Sein Ton verriet nicht, was er von ihr hielt. »Die Selbstmord begangen hat.«
Ich schaute das Foto lange an, doch je länger ich hinsah, desto mehr schien es sich vor meinen Augen aufzulösen. Liza wurde schärfer – süß, lustig, nett, hübsch, freundlich –, während Aurora allmählich verschwamm. Zum ersten Mal erkannte ich die Ähnlichkeit zwischen uns. Sie lag nicht in ihrem Gesicht, sondern in ihren Augen. Ich kannte den Ausdruck von mir selbst – den Ausdruck eines Menschen, der ein Geheimnis hütet.
Wer bist du?
, fragte ich mich.
Was ist mit dir passiert?
Damals war mir nicht klar, dass ich die halbe Antwort vor mir hatte, seitdem ich hier angekommen war.
10. Kapitel
V
on irgendwoher kommt ein Geräusch, es klingt wie ein Fernseher, eine Männerstimme sagt: »Na komm schon.« Ich stehe in einem unbekannten Zimmer.
Mein Herz hämmert, und ich habe ein Klingeln in den Ohren. Dann erkenne ich, dass
im Zimmer ein Telefon steht.
Du musst rangehen,
denke ich.
Es geht um Leben und Tod.
»Es ist Zeit«, sagt die Stimme im Fernsehen, wird lauter, als wolle sie mich vom
Klingeln ablenken. Ich bewege mich rückwärts zum Nachttisch (»Na los!«, sagt die Stimme), zum Telefon hin, greife hinter mich, um den Hörer abzunehmen. Ich bin fast da, denke ich, doch es entgleitet mir. Als ich nach unten sehe, bemerke ich einen Notizzettel, auf dem TOM YAW geschrieben steht. Ist er am Telefon?
»Ich muss los«, sagt die Stimme im Fernsehen, und etwas an ihr kommt mir plötzlich
vertraut vor. Mein Puls rast, in meinem Kopf ertönt ein Alarmsignal. Ich taste verzweifelt nach dem Telefon, berühre es mit den Fingerspitzen. Der Hörer rutscht ab und fällt herunter, und in dem Moment, als ich danach greife und ihn auffange, sendet mein Geist die Warnung:
Pass auf!
Ich drehe mich um und sehe …
Bain stand neben dem Bett, als ich die Augen öffnete.
»Weißt du eigentlich, dass du im Schlaf redest?«
Ich atmete schnell, mein Herz hämmerte. »Was machst du hier?« Ich stützte mich auf einen Ellbogen und schaute zum Wecker neben dem Bett. Acht Uhr morgens. »Es ist noch viel zu früh«, beklagte ich mich, als wäre ich nicht jahrelang Stunden früher aufgestanden. Dann bemerkte ich seine weißen Shorts und das weiße Hemd. »Warum siehst du aus wie ein Krankenpfleger?«
»Tennis«, sagte er und warf den Schläger mit dem rot-weißen Griff, den ich vom Foto auf dem Klavier kannte, in die Luft und fing ihn wieder auf. »Bridgette legt Wert darauf, dass du wenigstens die Grundlagen lernst, selbst wenn du sagst, dass du nicht spielen willst. Die Angestellten des Haupthauses sind sonntagmorgens in der Kirche, also haben wir ein paar Stunden Zeit für uns. Komm mit.«
Ich zog mir die Decke bis ans Kinn. »Ich weiß aber nicht, was ich anziehen soll.«
»Auf dem Sofa liegen ein paar Tennissachen von Bridgette«, sagte er. »Na los, wir müssen uns beeilen.«
Ich war noch immer ziemlich durcheinander, als ich mich in Bridgettes Kleidung zwängte, nach dem Schläger griff und nach unten stolperte. Ich hatte nicht gehört, wie Bridgette gekommen war, aber sie saß an der Esstheke, ein Bein untergeschlagen, und trank von ihrem Süßstoff-Kaffee. Sie spielte mit einem Stück Toast, als wollte sie es vielleicht tatsächlich essen, und las dabei Zeitung. Sie warf mir einen raschen Blick zu. »Bain ist schon unten auf dem Platz.« Dann wandte sie sich wieder ihrem Frühstück zu.
Also kein Kaffee für mich.
Aufgrund des Koffeinmangels und der Tatsache, dass Bridgettes Schuhe zwei Nummern zu groß waren, stieg ich die Treppe des Turms mit wenig Anmut hinunter, doch sobald ich in die frische Morgenluft trat, verspürte ich neue Energie. Das Gästehaus war schön, aber, um nicht gesehen zu werden, hatte ich mich eine ganze Woche drinnen aufgehalten. Auf einmal fühlte ich mich frei, wie aus dem Gefängnis entkommen. Einem Gefängnis mit Bettwäsche aus
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