Geisterblumen
sagtest, ich habe mich verändert.« Ich beugte mich vor, um sie auf die Wange zu küssen. »Gute Nacht, Großmutter.«
Sie wich zurück, als hätte sie sich verbrannt. »Nenn mich nicht so. Nach allem, was du getan hast, hast du kein Recht auf solche Vertraulichkeiten. Wenn du mich irgendwie ansprechen musst, dann nenne mich Althea.« Ihre Stimme war kalt wie ein Eiszapfen im Mondschein. »Geh ins Bett.«
Ich neigte den Kopf und ging über den Innenhof. Ein Wind wehte und riss mir die Tür, die in den Flur führte, beinahe aus der Hand. Irgendwo über mir ertönte ein schwaches Heulen. Ich spürte ein Kribbeln tief im Rücken, das durch meine Rippen nach oben stieg.
Das Haus will mich nicht hierhaben
, dachte ich mit plötzlicher Klarheit, als wäre es ein ganz natürlicher Gedanke.
Das Haus will, dass ich gehe.
Aber mir blieb keine Wahl. Ich hatte eine Abmachung mit Bain und Bridgette. Das hier war meine Chance auf ein neues Leben. Einen neuen Anfang. Und die musste ich nutzen.
Auf den letzten beiden Treppenläufen ging ich langsamer und spürte, wie sich meine Brust
bei jedem Atemzug verengte.
Geh! Raus hier!
, schrie die Stimme in meinem Kopf.
Dreh um.
Der Flur am Ende der Treppe lag völlig still vor mir, die Luft war kühl und duftete schwer.
Wie in einem Mausoleum
, dachte ich.
Ich stand da und starrte, fasziniert und angewidert zugleich, auf Auroras Tür, die dritte auf der rechten Seite. Wie eine Schlafwandlerin machte ich einen mühsamen Schritt und dann noch einen, bis ich genau davorstand. Ich holte tief Luft und griff nach dem Türknauf. Die Tür öffnete sich mit einem leisen Stöhnen. Mit zitternden Fingern tastete ich an der Innenwand nach dem Lichtschalter.
Und lachte erleichtert auf.
Das Zimmer war wunderschön. Von einer sternförmigen Laterne, die an einem hohen Betthimmel aus hellem Holz hing, fiel ein warmes Glühen auf das Bett. Alles sah genauso aus wie auf den Fotos, die Bridgette und Bain mir gezeigt hatten: das moderne Bett aus solidem Birkenholz, das Auroras Eltern in dem Wald in Bayern gekauft hatten, in dem sie gezeugt worden war; darauf Dutzende von Kissen in weißen Spitzen- oder Häkelhüllen. Auf dem polierten Holzboden lagen ein gewaltiger Teppich aus weißem Kunstfell (das hoffte ich jedenfalls) und genoppte Sitzkissen in Hellbeige, die um einen niedrigen, weißen Lacktisch angeordnet waren. Alles war schick und bequem und offenbar von einer Innenarchitektin gestaltet. Hier gab es nichts Düsteres oder Unheimliches, das mir Angst machen könnte.
Durch eine offene Tür am anderen Ende des Zimmers konnte ich ins Bad sehen, das größer war als die Toiletten auf vielen Busbahnhöfen, zudem weit sauberer und mit graugrünem Marmor ausgelegt, der jedes städtische Budget gesprengt hätte.
Ich machte einen Schritt nach vorn und dann noch einen. Ich kam mir vor wie ein
Eindringling, der in einem fremden Zimmer schnüffelt. Als könnte man mich jeden Moment
ertappen.
Das ist dein Zimmer
, sagte ich mir.
Deins.
Und es würde dreieinhalb Stunden dauern, um es zu reinigen.
In diesem Augenblick verschwanden das Gefühl von Fremdheit und Furcht, und Freude überkam mich. Es war herrlich! Es gehörte mir! Ich ließ mich auf die weißen Bettkissen fallen und umarmte mich. Dieses Bett, dieses Zimmer, dieses …
Ich stand auf und ging zum Kleiderschrank. Kleider, Hosen, Blusen, Jacken, alle fein säuberlich aufgereiht, mehr Kleidungsstücke als ich in vielen Jahren besessen hatte. Ich strich mit den Fingern darüber, drehte Etiketten mit Namen um, die ich aus den Häusern kannte, in denen ich geputzt hatte, und aus alten Ausgaben der
Elle
. An manchen Sachen hingen noch Preisschilder – eine Jacke, vier Blusen und drei Kleider waren noch nie getragen worden. Es gab hautenge Minikleider und weite Pullover und Kunstlederhosen und einen langen Westernrock – ein Durcheinander aus unterschiedlichen Stilen.
Bain und Bridgette hatten Aurora als schnoddriges, selbstsicheres Partygirl beschrieben, das immer im Mittelpunkt stand. Doch das Durcheinander in ihrem Kleiderschrank erzählte eine andere Geschichte. Es zeugte von Einsamkeit und Unsicherheit. Ich konnte mir vorstellen, wie Aurora genau hier gestanden hatte, wo ich jetzt war, verschiedene Outfits angeschaut und anprobiert hatte, als könnte sie mit dem richtigen Look herausfinden, wer sie war oder sein wollte. Auf einmal war sie nicht mehr nur ein verwöhntes Mädchen, das zu viel Zeit und Geld zur Verfügung hatte, sondern jemand,
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