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Geisterblumen

Geisterblumen

Titel: Geisterblumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Jaffe
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der einkaufte, um etwas zu tun, um etwas zu fühlen.
    Ich dachte an den kühlen Empfang, den mir ihre »Freunde« bei Coralees Party bereitet
hatten. Vielleicht hatten auch sie Aurora nicht wirklich gekannt.
Vor wem hast du dich versteckt?
Das hätte ich sie gern gefragt. Falls es stimmte, was Bain und Bridgette sagten, war Auroras Beziehung zu Liza nicht nur ihre engste, sondern vielleicht auch ihre einzige gewesen. Ich fuhr mit den Fingern über Fransen, Leder und Seide und wünschte, ich könnte Aurora umarmen und ihr sagen, dass sie nicht allein war, dass alles gut werden würde.
    Nur, erinnerte ich mich, war nicht alles gut geworden.
    Hör auf damit.
    Ich öffnete den zweiten Kleiderschrank und bekam weiche Knie. Er war von der Decke bis zum Boden voller Schuhregale. Ich griff nach einem Paar schwarzer Ballerinas mit biegsamer Gummisohle, die kaum getragen aussahen. Ich hob den Fuß und streifte einen über, eine Do-it-yourself-Cinderella. Er passte perfekt.
    Manche Schuhe waren langweilig, einige sogar hässlich – die Crocs wanderten direkt in den Mülleimer –, aber es gab auch ein paar silberne Schuhe mit Keilabsatz von Prada und Plateau-Sandalen von Gucci mit überkreuzten Riemen am Knöchel und ein paar Motorradstiefel mit Nieten. Alle genau in meiner Größe.
    Oh, Aurora, wie konntest du nur von hier weglaufen?,
dachte ich.
    Im Geiste kehrte ich zurück in einen Busbahnhof auf dem Land: Linoleumboden, summende Neonröhren, süßlich-falscher Kiefernduft des Industriereinigers, den der Hausmeister im grauen Overall überall verteilt hatte, während er sich zur Musik wiegte, die aus seinen Ohrstöpseln drang. Es war halb zwölf, und niemand war da außer meiner Mutter und mir. Wir waren wochenlang mit dem Bus umhergefahren, hatten uns in immer größeren Kreisen über die Landkarte bewegt, als würden wir von einem wahnsinnigen Spirographen angetrieben.
    Ich kratzte mit dem Nagel meines kleinen Fingers, von dem der rote Lack blätterte, an dem alten Harz auf den hölzernen Bänken, während meine Mutter neben mir saß, den Kopf leicht abgewandt und auf Gespräche horchte, die nur sie hören konnte.
    »Laufen wir von zu Hause weg?«, fragte ich und sprach damit die Frage aus, die mir seit Tagen durch den Kopf ging, seit die Dame im Wok-on-Restaurant gefragt hatte, woher wir kämen, und meine Mutter gelogen hatte.
    Meine Mutter hatte gelacht. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihr Lachen kann ich immer aufs Neue heraufbeschwören – voll und klingend wie Glocken, die einen zur Hochzeit rufen. »Nein, du dummes Ding. Du kannst nicht von zu Hause weglaufen. Wenn du davor wegläufst, ist es kein
Zuhause
.« Sie hatte mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht gestrichen. »Du kannst nur aus einem Haus weglaufen. Zuhause ist etwas, wohin du läufst.«
    Zuhause.
Ich schaute mich in dem Zimmer um und begriff plötzlich, wie steril das alles war. Nicht nur sauber und ordentlich, sondern wirklich steril. Es wirkte eher wie die Kulisse in einem Theater und nicht wie ein Ort, den jemand über längere Zeit bewohnt hatte. Es gab keine gerahmten Fotos, keine kleinen Notizen oder dumme Überraschungsei-Spielzeuge, keine Steine mit Gesichtern, die man bei einem Spaziergang gefunden hatte, keine einstmals geliebten und jetzt vernachlässigten und in eine Ecke geworfenen Spiele oder Puppen, keine rundgeschliffene Glasscherbe aus dem Meer oder Postkarten von Freundinnen oder abgekaute Bleistifte oder halbaufgebrauchte Radiergummis, die nach Himbeere rochen. Kein Computer. Es sah aus wie das Zimmer von jemandem, der versucht hatte, seine Identität auszulöschen. Oder aber man hatte Auroras Identität ausgelöscht, nachdem sie verschwunden war.
    Plötzlich fühlte ich mich ausgelaugt, ohne Energie, wie ein Segel, das ohne Wind erschlafft. Es gab zu viele Dinge, die ich vor dem Schlafengehen eigentlich hätte machen müssen, beschloss aber, nur den ersten Zettel von Bain zu verstecken, auf dem er mir die 100 000  Dollar angeboten hatte. Alles andere konnte bis zum Morgen warten. Ich schob ihn zwischen Matratze und Sprungfedern, wo er wohl sicher sein würde, bis ich morgen früh aufstand.
    Ich öffnete die ersten beiden Schubladen der Kommode und fand in der einen duftige Unterwäsche und in der anderen Socken, die ordentlich zu Kugeln gerollt waren. Darunter gab es eine große Schublade mit gefalteten T-Shirts, darunter wiederum Sweathosen und -shorts. Ich nahm eine Jungenshorts und ein T-Shirt heraus und griff nach

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