Geisterblumen

Althea mich akzeptierte. Plötzlich aber wurde mir klar, dass ich keine Ahnung hatte, wie Aurora sich in dieser Situation verhalten hätte. Wie wäre es, seine Familie nach einer so langen Abwesenheit wiederzusehen?
    Ohne Vorwarnung tauchte vor meinem inneren Auge das Bild eines geräumigen, eleganten Zimmers auf.
    Eine Frau steht vor einem hohen Fenster und schaut hinaus. Als ich hineingehe, drehte sie sich zu mir um. Die Sonne scheint ihr in den Rücken, und ich kann ihr Gesicht nicht sehen. Aber ich weiß, es ist meine Mutter, und ich weiß, dass sie lächelt. Sie breitet die Arme aus und zieht mich an sich, und ich spüre ihre Wärme, als sie mich an sich drückt und sanft wiegt. Ich sage: »Es tut mir so leid, Mommy«, und sie sagt …
    »Wo bleibt sie nur so lange?« Altheas Stimme erklang irgendwo unten am Fuß der breiten Treppe, durchschnitt meine Gedanken, und ich spürte eine Mischung aus Enttäuschung und Erleichterung.
    Dafür hast du keine Zeit
, sagte ich streng zu mir.
Es ist Zeit, dass du Aurora spielst, die Aurora, mit der alle rechnen
. Meine Beine zitterten ein bisschen, als ich die Treppe hinunterstieg. Mir wurde klar, dass ich Angst hatte, aber auch … aufgeregt war.
    Als ich das Wohnzimmer betrat, erinnerte ich mich an die Träume, in denen
Schaufensterpuppen in einem Laden nach Feierabend zum Leben erwachen. Vor der Tür hatte ich
noch Stimmen gehört, doch als ich eintrat, erstarrten alle, und der Raum schien plötzlich mit lebensgroßen Skulpturen gefüllt, die in einer typisch befangenen Haltung verharrten. Bridger Silverton – Vater von Bain und Bridgette [ 55 , Bauunternehmer, bewirbt sich für den Kongress, verwitwet und wieder verheiratet, Vermögen 26  Millionen Dollar] – hatte sich halb aus einem Ledersessel erhoben; Margie Silverton [ 35 , Bridgers zweite Frau, kein eigenes Vermögen. Ehemalige Kellnerin und Bridgers Geliebte seit dem Tod seiner ersten Frau. Hatte ihn »irgendwie davon überzeugt«, ihn zu heiraten, unmittelbar nachdem Aurora verschwunden war; laut Bridgette »ehrgeizig, auf geschickte Weise hinterhältig, manipulativ und gefährlich«; Bain beschrieb sie als »charmante Schlampe aus der Wohnwagensiedlung«] balancierte mit gekreuzten Knöcheln auf der Armlehne eines Sessels.
    Es gab nicht genügend Sitzgelegenheiten im Zimmer, als wollte man es den Leuten mit
Absicht unbequem machen. Bridgette stand hinter ihrem Vater und ihrer Stiefmutter an der Wand,
die Hände zu Fäusten geballt, und Bain lungerte neben ihr herum, das Gesicht zu einem hämischen Grinsen verzogen. Auf der anderen Seite des Raums stand Onkel Thom und sah aus, als trüge er einen Anzug, was aber nicht der Fall war. Er ließ seine Hand von der Rückenlehne des Polstersessels baumeln, in dem Tante Claire saß [ 44 , erzählt aber, sie sei 35 , jüngstes Kind von Althea und Sargeant, ätherische Schönheit, hat sich in allen Künsten versucht, laut Bain »nett«, laut Bridgette »rücksichtslos«, älter als ihr Mann, hat aber hart daran gearbeitet, jünger auszusehen. Sie behauptet, sie habe ein Vermögen von 14  Millionen, doch soll sie das meiste an eine Sekte verloren haben und von Krediten leben, die sie auf ihr künftiges Erbe erhält]. Sie war die beste Freundin von Auroras Mutter gewesen, und ich betrachtete sie interessiert. Ihr blasses Alabastergesicht mit den etwas zu großen Augen und sorgfältigen Konturen wirkte befremdlich. Zu ihren Füßen lag ein großer Irish Setter. Sie wirkte entspannt, schien mich aber von allen am aufmerksamsten zu beobachten.
    In der Mitte thronte Althea wie eine elisabethanische Monarchin in einem weinroten Ohrensessel mit großen Messingknöpfen. »Komm«, sagte sie und winkte mich zu sich. Der Befehl brachte Bewegung in das lebende Bild, und plötzlich redeten alle wieder, bewegten sich und versammelten sich um mich. Nach genau zwei Minuten unaufrichtiger Umarmungen und erstaunter Rückenklopfer sagte Althea: »Genug! Wir haben zu arbeiten.« Alle nahmen ihre vorherigen Positionen ein, wie erfahrene Schauspieler, die sich auf ihre Markierungen begeben.
    Eine junge Frau mit gekräuseltem Haar, das sie zu einem bauschigen Pferdeschwanz frisiert
hatte, und einer Haut wie Mokka war hereingekommen und hatte sich diskret an die Seite gestellt. Ich kannte sie von den Karten – Jordan North [ 23 , Schulfreundin von Bain und Bridgette, hatte Aurora also gekannt; jetzt Altheas Privatsekretärin, bewarb sich um einen Studienplatz für Psychologie; Vermögen