Geisterblumen
dass ich sie überhaupt abgeschlossen hatte. Ich wusch mir gerade das Gesicht in dem grünweiß gefliesten Luxusbad, als ich hörte, wie sich die Tür öffnete. Ich drehte mich um und sah eine Frau hereinkommen, die vor meinem leeren Bett stehen blieb, sich umdrehte und mich ansah.
Sie stand reglos da, eine große, schlanke Frau mit einem Gesicht wie eine umgedrehte Anjou-Birne, glatt und goldbraun, mit hohen Wangenknochen und einem kleinen, runden Kinn. Sie hatte ihr dunkles Haar zu einem festen Knoten gesteckt, und es war stärker mit Silber durchzogen als auf den Fotos. Doch das Gesicht war dasselbe, und die klugen Augen hinter der mit Strass besetzten Schmetterlingsbrille, denen nichts zu entgehen schien, waren dieselben. Sie sah aus wie eine erstklassige Schulbibliothekarin, und ich hätte niemals gedacht, dass sie schon über sechzig war. Sie trug eine dunkelblaue Hose, eine blütenweiße Bluse mit aufgerollten Ärmeln und ein Armband aus Silber und Türkis, das sie vermutlich bei einem Verwandtenbesuch im Maricopa-Reservat gekauft hatte.
Sie hatte ein Frühstückstablett in der Hand. Ich ging hin und nahm es ihr ab.
»Hallo, Mrs March«, sagte ich.
»Du bist ein sehr ungezogenes Mädchen.« Sie hatte Tränen in den Augen.
»Es tut mir leid«, sagte ich.
»Du gehst einfach so, ohne ein Wort, wir haben uns solche Sorgen gemacht. Und nun sieh dich an. Ganz erwachsen und viel zu dünn. Ich wusste, dass du auf der Straße nicht richtig auf dich aufpassen würdest. Ich habe mich geärgert und mich gesorgt, und ich habe recht behalten.« Jetzt brach sie in Tränen aus.
Ich legte die Arme um sie, aber sie schüttelte den Kopf. Ich ließ die Hände sinken. »Aber ich bin doch hier. Wieder da. Ich bin nur zurückgekommen, um Sie wiederzusehen und Ihr Essen zu genießen.«
Sie schniefte. »Ach was.« Sie trat einen Schritt zurück und griff nach einem gebügelten Taschentuch, um sich die Augen zu wischen. Dann schaute sie mich an. »Ich kann es nicht glauben.«
»Tut mir leid, dass ich weggegangen bin.« Es kam mir richtig vor. Und wie ich so dastand und den einzigen Menschen anschaute, den Auroras Verschwinden wirklich erschüttert zu haben schien, meinte ich es auch ehrlich.
»Es tut ihr leid, dass sie weggegangen ist«, wiederholte sie, die Hände in die Hüften gestützt, und sah jetzt noch mehr wie eine Schulbibliothekarin aus. »Weißt du eigentlich, was ich mit dir machen sollte?« Sie wartete gar nicht erst auf meine Antwort. »Ich auch nicht, aber ich werde darüber nachdenken. Fürs Erste solltest du das hier essen und den Mund halten.« Sie strich ihre Haare glatt.
»Sie haben mir Donuts gebracht.«
»Ja, das habe ich, obwohl du sie eigentlich nicht verdient hast. Sieh zu, dass du alle aufisst. Unten wartet die Familie, um dich zu begrüßen, und dann wird dein Onkel Thom mit dir zur Polizei fahren, wo man dich befragen wird. Falls du das überlebst, steht dir der zusätzliche Schrecken bevor, mit Bridgette einkaufen zu gehen, damit du etwas Passendes für den Country Club hast. Ich weiß nicht, was schlimmer ist, jedenfalls wirst du deine ganze Kraft brauchen.«
»Vielen Dank.«
Sie nickte und wandte sich zum Bett. Dann aber, bevor sie irgendetwas tat, erstarrte sie in der Bewegung, drehte sich um, kam zu mir und nahm mich in die Arme. »Willkommen zu Hause, Aurora.« Weder ihre Worte noch ihre Berührung machten mir Angst. Sie war der erste Mensch, der mich aus Freundlichkeit berührte.
Dann sagte sie: »Ich könnte heute nicht glücklicher sein, wenn du meine eigene Enkelin wärst.«
»Ich wünschte, das wäre ich.«
Sie schüttelte den Kopf. »Fang nicht wieder mit diesem Gerede an. Du kennst deine Großmutter. Von außen hart, aber innen ganz weich. Da kenne ich übrigens noch jemanden. Und jetzt zieh dich an.«
»Ich bin nicht wie sie«, protestierte ich instinktiv.
Sie lachte. Dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. »Sie braucht dich. Mehr denn je. Du bist gerade rechtzeitig zurückgekommen. Braves Mädchen.«
»Wie meinen Sie das?«
»Sie wird älter … wie wir alle.« Sie trat ans Bett und stapelte die Kissen auf dem nahen Couchtisch. Sie arbeitete mit der mühelosen Präzision eines Menschen, der so etwas häufig tut, und ich fragte mich, ob sie die Arbeit mochte. Ich hatte meine Zeit als Zimmermädchen nicht gemocht, aber vielleicht war es in einem Haus wie diesem ja anders. »Bald sind wir alle so klapprig wie dieses Haus.«
Ich bemerkte den Fotostreifen auf dem Nachttisch
Weitere Kostenlose Bücher