Geisterblumen
wenig orientierungslos.
Maisie schloss den schweren Samtvorhang, wobei die großen, hölzernen Ringe diskret klickten. Jetzt waren alle Geräusche von außen gedämpft, und ich kam mir vor wie in einem Kokon. Ich betastete ein mitternachtsblaues Seidenkleid mit Perlenknöpfen, das in der Mitte der Abendauswahl hing, und spielte mit dem Gedanken, hier zu beginnen. Doch da ich ohnehin ein bisschen Angst davor hatte, wie Bridgette auf meinen Auftritt bei Coralees Party reagieren würde, beschloss ich, mich diesmal an ihre Anweisungen zu halten.
Ich war beim zweiten Tagesoutfit angelangt, als ein Telefon klingelte. Es kam aus der Tüte neben dem Stuhl. Ich zuckte zusammen, als ich begriff, dass es mein eigenes war.
Langsam ging ich hin, öffnete die Tüte und holte das Gerät heraus.
Unbekannter Anrufer
stand auf dem Display. Mein Herz schlug schneller.
Wer sollte mich anrufen? Bain? Althea?
Wer sonst kannte diese Nummer oder hätte gewusst, dass sie wieder aktiv war?
»Hallo?« Ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.
Am anderen Ende herrschte Schweigen.
Ich glaubte schon, jemand hätte sich verwählt, doch dann hörte ich ein ganz leises Atmen. Jemand war am anderen Ende.
»Hallo?«, fragte ich noch einmal.
Es war ein weiches, schwaches Atmen, als käme es von weither. Es erinnerte mich daran, wenn meine Mutter, meine wirkliche Mutter, mich von Münztelefonen aus angerufen hatte. Das blecherne Knistern hatte ihre Stimme irgendwie surreal und unmenschlich klingen lassen.
»Wer ist da?«
Das Atmen verstummte. Die Leitung war unterbrochen.
Na super
, dachte ich und legte das Telefon beiseite.
Ich bin noch keine vierundzwanzig Stunden hier und schon der erste Telefonstreich.
Ich wollte es als Scherz abtun, doch während ich einen kurzärmeligen Kaschmir-Pullover überstreifte, musste ich mir eingestehen, dass der Anruf beunruhigend gewesen war. Hätte das Atmen schwer geklungen wie bei einem Perversen, wäre das eine Sache gewesen. Aber es hatte anders geklungen. Es war wie der Atem eines Menschen gewesen, der am anderen Ende der Welt schlief.
Ich brauchte zehn Minuten, um mich durch die ersten drei Tagesoutfits zu arbeiten, und wenn ich in diesem Tempo weitermachte, würde ich vermutlich bis zu Auroras Geburtstag brauchen. Um die Sache zu beschleunigen, verzichtete ich auf das Schließen von Knöpfen und Reißverschlüssen, so dass ich gerade in einer silbergrauen Bluse gefangen war, als ich einen Luftzug hinter mir bemerkte, und etwas über mein Bein strich.
Ich konnte nichts sehen und auch die Arme nicht bewegen. Ich wollte schon sagen: »Wer …«
Da legte sich eine Hand über meinen Mund, ein Arm um meine Brust, und eine Stimme sagte: »Nicht schreien.«
21. Kapitel
N iemand, der wie ich gelebt hat, würde einem solchen Befehl Folge leisten.
Ich hatte während der gesamten bisherigen Anprobe meine Motorradstiefel anbehalten und trat jetzt damit nach hinten, wobei ich ein Schienbein traf.
»Hör auf«, sagte eine Mädchenstimme. »Autsch.«
Endlich bekam ich meinen Kopf durch die Bluse und die Arme in die Ärmel und drehte mich um. Ich stand Coralee Gold gegenüber.
»Bist du aber brutal«, beschwerte sie sich und massierte ihr Schienbein.
Mein Herz hämmerte, und meine Gedanken sprangen von dem Mädchen, dessen Abschlussparty ich verdorben hatte, zur Behauptung der Polizei, dass sie und Liza verfeindet gewesen seien.
Sie schob die Kleidungsstücke beiseite, die ich auf die Chaiselongue gelegt hatte, setzte sich, stützte sich mit den Händen ab und lehnte sich nach hinten. Sie trug eine enge Jeans und ein fließendes, gelbes Oberteil mit goldenen Troddeln an den Ärmeln. Das Top war durchsichtig, und man sah, dass sie keinen BH trug. An einem Ohr baumelte ein langer Perlenohrring.
Ich sah ihre Eltern vor mir – Gina »Super-Hausfrau« Gold, die hochgewachsene Japanerin, und den »wunderbaren Bernie«, klein und weiß –, die in allen Ausgaben des
Tucson-
Magazins auftauchten, und begriff, dass Coralee eine perfekte Mischung aus beiden war. Sie hatte die Gesichtszüge und das dichte, dunkle Haar ihrer Mutter geerbt, von ihrem Vater hingegen die durchdringenden grünen Augen und das Grübchen im Kinn. Sie war eher schön als hübsch. Und als Kind vermutlich ziemlich anstrengend gewesen. Jetzt sah sie hinreißend aus, und ihre Haltung verriet, dass sie sich dessen bewusst war. Vielleicht ein bisschen zu sehr, als wollte sie die verlorene Zeit wettmachen. Oder als hätte
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