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Geisterblumen

Geisterblumen

Titel: Geisterblumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Jaffe
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überkam der überwältigende Drang, ihn zu umarmen, doch er wich zurück. Eine durchdringende Kälte kam über mich, und ich ließ die Hände sinken. »Ich bedauere Ihren Verlust.« Es klang lächerlich.
    Seine Augen wanderten forschend über mein Gesicht, so genau hatte mich seit meiner Ankunft in Tucson noch niemand gemustert. Er schien etwas zu suchen.
    Etwas, das ich ihm nicht geben konnte. Mit brechender Stimme sagte er: »Warum tust du das?«
    »Was?« Der Schmerz in seinem Gesicht war entsetzlich. Ich wollte mich umdrehen und weglaufen. Zu so etwas hatte ich mich nicht bereiterklärt, als ich die Abmachung mit Bain und Bridgette getroffen hatte. Ich hatte keine Ahnung gehabt, was ich diesen Menschen antun würde.
    »Das alles wieder aufwühlen. Die ganzen Wunden aufreißen.« Seine Augen wanderten zu den Fotos, die auf dem Tisch lagen. Ich wünschte, jemand hätte sie umgedreht.
    Ich kam mir wertlos und schäbig vor. »Das war nicht meine Absicht, Mr Lawson. Ich … die Polizei wollte nur …«
    Sein Blick kehrte zu mir zurück, er hatte sich verändert, wirkte gefasst und entschlossen. Kalt. Es war, als hätte er eine Entscheidung getroffen. Er legte mir die Hände auf die Schultern. »Meine Tochter hat Selbstmord begangen. Damit muss ich leben. Aber ich kann nicht damit leben, dass alles wieder aufgewühlt wird. Sie ist allein gestorben. Allein, mein süßes Mädchen. Du hast sie damals im Stich gelassen. Warum kannst du sie jetzt nicht in Ruhe lassen?« Seine Augen blickten fiebrig. »Gib endlich Ruhe. Wenn noch etwas passiert, wird es deine Schuld sein. Deine Schuld.
Verstehst du das?«
Sein Griff war wütend, sein Tonfall beinahe bedrohlich.
    Doch sein Blick zeugte von … Angst. Er
fürchtete sich
vor etwas.
    »Das ist eine Drohung«, verkündete Onkel Thom. »Ich möchte, dass Sie zu Protokoll nehmen, dass er meine Nichte angefasst …«
    »
Angst in einer Handvoll Staub
«, sagte ich, bevor ich mich bremsen konnte, und war plötzlich erleichtert, so wie wenn man sich an den Text eines Liedes erinnert, der einem entfallen war.
    Dann schaute ich Mr Lawson an. Alle Farbe war aus seinem Gesicht gewichen, er war krankhaft bleich. »Was hast du gesagt?« Er grub die Finger in meine Schultern, als würde er fallen, wenn er sich nicht an mir festhielt, und seine Stimme klang gequält, als müsste man sie aus ihm herauszerren. »Was … warum hast du das gesagt?«
    »Ich sagte ›Angst in einer Handvoll Staub‹. Warum, weiß ich nicht. Ich nehme an, es stammt aus einem Gedicht, aber ich komme nicht darauf. Wissen Sie, was es bedeutet?«
    »Es war Lizas Lieblingsgedicht.
Das öde Land
von T. S. Eliot. Du hast es gekannt. Du musst gewusst haben, dass sie die Strophe aufgeschrieben und an ihre Wand geheftet hatte.«
    Lizas Lieblingsgedicht? Weshalb sollte ich mich ausgerechnet daran erinnern? Wie?
    Das Entsetzen, das mich gestern Abend überkommen hatte, als sich der Türknauf gedreht hatte, schlug wieder über mir zusammen. Ich starrte Mr Lawson an.
    Sein qualvoller Gesichtsausdruck war kaum zu ertragen. Seine Finger drückten sich noch immer in meine Schultern. Ich wusste nicht, ob ich ihn umarmen oder vor ihm fliehen sollte. Ich stand einfach da und zitterte, während meine Gedanken dahinrasten. »Es tut mir so leid«, sagte ich und griff auf mein vorbereitetes Drehbuch zurück, während mein Verstand umhertaumelte wie ein Betrunkener, der die Realität nicht begreift. »Ich habe mich nicht daran erinnert. Ich wusste das nicht.«
    »Er tut meiner Klientin weh«, krächzte Onkel Thom irgendwo in der Ferne.
    N. Martinez trat vor, und Mr Lawson nahm die Hände von meinen Schultern. »Ich gehe. Es ist erledigt.« Er hielt seinen erregten Blick weiter auf mich gerichtet und sagte: »Bitte, hör auf.« Dann ging er hinaus.
    Es herrschte kurz Stille. Dann erhob sich Onkel Thomas. »Wir sind hier fertig.«
    Er und Detective Ainslie diskutierten darüber, ob ein weiteres Gespräch erforderlich sei, und dann gab sie mir ihre Karte und bat mich, sie anzurufen, falls mir noch etwas einfiel. Ich sagte das Übliche, ohne auf meine Worte zu achten. Meine Augen klebten an der Nahaufnahme von Liza, die noch immer mitten auf dem Tisch lag, und dem halben Lächeln, mit dem sie zu mir aufblickte. Als hätten wir beide ein Geheimnis.
    Es musste Zufall gewesen sein, dass ich an das Gedicht gedacht hatte. Es lag an den Fotos, den staubigen Felsen in der Wüste. Nur ein Zufall, über den ich nicht weiter nachdenken

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