Geisterblumen
musste.
Ich spürte, wie man mich zur Tür schob, und als ich aus der Trance erwachte, wurde mir klar, dass Dr. Jackson mit mir sprach. »Es war schön, dich kennenzulernen, Aurora«, sagte sie. »Viel Glück.« Sie streckte mir die Hand entgegen.
Es war eine seltsam förmliche Geste, doch sie vertrieb meine Lethargie, denn als ich die Tür erreichte, fiel mir tatsächlich etwas ein. Ich drehte mich um, die Hand am Türrahmen, und sagte: »Es ist ungewöhnlich, oder? Selbstmord durch einen Sprung aus großer Höhe?«
Dr. Jackson nickte »Das stimmt. Obwohl man es in Filmen so häufig sieht, geschehen nur zehn Prozent aller Selbstmorde auf diese Weise.«
»Wenngleich Three Lovers eine beliebte Stelle dafür ist«, ergänzte Detective Ainslie. »Nach deiner Freundin ist noch jemand dort hinuntergesprungen. Ein Mann namens James Jakes.«
»Sie haben bereits erfolglos versucht, es der Familie in die Schuhe zu schieben«, sagte Onkel Thom. »Sie konnten damals keine Verbindung zu Bain herstellen, und das wird Ihnen jetzt auch bei Aurora nicht gelingen.« Er legte mir die Hand auf den Rücken und schob mich zur Tür hinaus.
Als wir aus der Polizeiwache traten, überwältigten mich der blendende Sonnenschein und die Hitze, und ich stand einen Moment lang da und ließ beides auf mich wirken. Der Wind hatte sich verstärkt und führte einen leichten Rauchgeruch mit sich.
»Die Zeit der Waldbrände«, sagte Onkel Thom. »Es heißt, dieses Jahr wird es schlimm werden.« Er sprach in beiläufigem Ton, so als hätten wir nicht soeben etwas Seltsames und Unheimliches erlebt. Dann wurde mir klar, dass nur ich es so empfand.
Woher hatte ich das Gedicht gekannt?
Ich zitterte plötzlich trotz der Hitze.
Am Fuß der Treppe stand eine Gruppe Leute, von denen einige Schilder in die Höhe hielten.
Silverton – Gefängnis statt Senat
, stand darauf. Als sie Onkel Thom und mich entdeckten, buhten sie uns aus. Eine Frau mit einer blauen Baseballkappe rief: »Mörder!«, als wir an ihr vorbeigingen, und andere stimmten ein.
Ich sah sie an, ich hörte sie, aber es war, als stünden sie hinter einer Glasscheibe. Als beobachtete ich sie aus großer Entfernung, mit fremden Augen, aus dem Körper eines anderen Menschen. Ich spürte diese andere Stimme in meinem Kopf und stellte mir das Mädchen vor, das am Boden der rostroten Schlucht lag, und ich fragte mich, ob es sich so anfühlte, wenn man von Geistern heimgesucht wurde.
Heimgesucht. Verfolgt.
Wieder überlief mich ein Schauer.
Es gibt
nichts, vor dem du dich fürchten müsstest
, sagte ich mir.
Du hast nur an ein Gedicht gedacht, weil dessen Bilder zu dem Foto passten. Man wird nicht heimgesucht. Es gibt keine Geister.
Und in den nächsten dreiundvierzig Minuten glaubte ich das auch.
20. Kapitel
W ir brauchten elf Minuten von der Polizeiwache zum Einkaufszentrum, in dem ich mit Bridgette verabredet war. Nachdem Onkel Thom gesagt hatte, ich hätte das toll gemacht, und ich etwas zurückgemurmelt hatte, verbrachten wir den Rest der Fahrt schweigend.
Ich versuchte, mich auf die Landschaft zu konzentrieren, um das Bild des Mädchens am Fuß der Schlucht zu verdrängen. Die Stadt Tucson wächst aus der Ebene empor und sieht aus, als hätte sie sich schichtweise entwickelt. Ich sah die vorbeiziehenden Gebäude mit übertriebenem Interesse an, zuerst die alten Adobe-Häuser aus Lehmziegeln, die man einer Luxussanierung unterzogen hatte: ein türkisfarbenes mit grüner Tür, ein rotes Gebäude mit roter Tür und einem gewaltigen Kaktus, der über einen hohen Zaun lugte. Daneben ein gelbes Haus mit grellblauer Tür, flankiert von seltenen Kletterpflanzen in leuchtendem Fuchsia.
Das sah nicht aus wie Auroras Welt – ich aber konnte mir durchaus vorstellen, in dem Haus mit der blauen Tür zu leben, an einem geschnitzten Tisch Hausaufgaben zu machen und auf meine Mutter zu warten, die gerade in ihrem Atelier malte. Ich würde uns zum Abendessen
maccaroni au gratin avec lardon
kochen, und wir würden von Tellern essen, die mit leuchtend bunten Pferden oder Kamelen bemalt waren. Später würden wir Tee aus großen Tassen trinken und zusammen auf einem überdimensionalen, grünen Sofa mit bunt zusammengewürfelten Kissen fernsehen.
Dann ließen wir die Häuser hinter uns und gelangten in die nächste Schicht, niedrige Einkaufszentren, in denen sich Reinigungen, Nagelstudios, Tabakläden und Hundesalons mit indianischen Galerien oder Edelsteinläden abwechselten, die einen daran
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