Geisterblumen
Erfahrungen mit Bridgette hatte ich sie eigentlich für einen Menschen gehalten, der sich strikt an die Verkehrsregeln hielt.
»Fährst du immer so?«
»Das habe ich im Sommer von einem Taxifahrer in Griechenland gelernt«, sagte sie, als wäre das eine plausible Erklärung. Sie machte keine Anstalten auszusteigen. Stattdessen schob sie die Sonnenbrille wieder auf den Kopf und hielt sich den Fotostreifen so nah vors Gesicht, als wollte sie hineinkriechen. Dann ließ sie ihn fallen, lehnte sich zurück und schloss die Augen. »Es stimmt also.«
Falls mich ihr Fahrstil überrascht hatte, überraschte mich ihre Reaktion auf die Fotos noch mehr. Sie schien aufrichtig erschüttert und niedergeschlagen.
»Hast du wirklich nichts davon gewusst?«
Sie schüttelte den Kopf. Die Augen immer noch geschlossen. »Wir – Aurora und ich – standen einander nicht so nahe. Als Bain mir erzählte …« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und öffnete die Augen, und ich war schockiert, als ich ihre Tränen bemerkte. »Arme Aurora.« Sie schüttelte den Kopf und räusperte sich. »Und armer Colin.«
»Wer ist dieser Colin?«
»Colin Vega. Er … er war in meinem Jahrgang in der Schule. Ein Basketballstar. Ist nach Dartmouth gegangen.« Sie tippte auf das Foto. »Woher hast du das?«
»Aus Ros Sockenschublade. Versteckt, aber nicht sehr gut. Du hast gesagt, ihre Beziehung sei wahnsinnig geheim gewesen, aber Bain wusste davon.«
»Wie kommst du darauf?« Sie klang plötzlich defensiv.
Sie hat ein schlechtes Gewissen
, dachte ich. Daher kam auch die Traurigkeit, zumindest teilweise.
»Du hast doch gerade gesagt, dass er es dir erzählt hat«, erwiderte ich gelassen.
Sie entspannte sich ein bisschen und sagte dann betont beiläufig. »Aber erst, nachdem Aurora verschwunden war.«
Das passte nicht zusammen. Sie verschwiegen mir etwas. Ich beschloss nachzuhaken. »Selbst wenn er nicht wusste, dass sie zusammen waren, kannte er doch Colin.«
»Natürlich.«
»Wieso hat er dann behauptet, er habe keine Ahnung, wer er sei, als ich ihm das Foto gezeigt habe?«
Sie schloss einen Moment die Augen und zog die Stirn zusammen, als hätte sie plötzlich Kopfschmerzen. »Das Gesicht ist ziemlich zerkratzt. Und vermutlich dachte er, es gäbe keinen Grund, es dir zu sagen.« Sie schwieg kurz und wich meinem Blick aus. »Dass es nicht wichtig wäre. Niemand wusste darüber Bescheid, und Colin wohnt nicht mehr in der Gegend.«
»Weshalb sollte Aurora es geheim gehalten haben?«
»Die Familie Vega und uns verbindet eine lange … Geschichte.«
»So etwas wie eine Fehde?«
Sie nickte. »Als Colins Mutter und mein Dad auf der Highschool waren, ist irgendetwas vorgefallen, und seitdem verstehen sich die Familie nicht mehr. Bei uns heißt es, die Vegas seien furchtbar jähzornig, und sie bezeichnen die Silvertons als unmoralische Intriganten.«
»Wow, das ist ja kaum zu glauben.«
»Doch, die Vegas sind wirklich für ihr Temperament berüchtigt«, versicherte sie und schien meinen Sarkasmus gar nicht zu bemerken. »Ich musste als Cheerleaderin aufhören, als Colin ins Basketballteam kam, weil meine Eltern seinen Eltern bei den Spielen nicht begegnen wollten. In letzter Zeit ist es etwas besser geworden. Wir sind Mitglied im selben Country Club, aber die Restaurants in der Stadt vermeiden es nach wie vor, von beiden Familien Reservierungen für denselben Abend anzunehmen. Und alle Rechtsanwälte und Bankiers meiner Großmutter wissen, dass sie sie feuert, wenn sie mit den Vegas zusammenarbeiten.«
»Das klingt heftig.« Ich bemühte mich nicht, überzeugend zu wirken.
»Ist es auch«, erwiderte Bridgette und ging auch diesmal nicht auf den Sarkasmus in meiner Stimme ein. »Wie bei den Montagues und Capulets. Darum ist es auch so schwer zu glauben, dass die beiden ein Paar waren. Und es erklärt, weshalb sie es geheim gehalten haben. Andererseits wurde er für Aurora dadurch vermutlich noch attraktiver. Eine weitere Möglichkeit, die Familie vor den Kopf zu stoßen.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass Bridgette in der Vergangenheit von Colin sprach. Etwas in meiner Brust zog sich schmerzhaft zusammen, als ich fragte: »Ist er auch gestorben?«
»N-nein«, sagte sie langsam. »Er lebt. Er ist nur weggezogen.« Sie überlegte und fuhr fort. »Das war direkt nach Auroras Verschwinden.« Noch immer nachdenklich blickte sie erneut auf den Fotostreifen. »Nach Auroras Gesicht zu urteilen, waren sie glücklich miteinander, oder?«
»Ja, sieht
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