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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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… ein bisschen … äh … übergewichtig ?«
Sie macht ein Geräusch, vielleicht wollte sie »Bitte?« sagen, aber dann lacht sie leise.
»Das kann man wohl sagen«, erklärt sie.
    Die nächsten vier Stunden renne ich wie ein Bräutigam am Morgen der Hochzeit durch die Gegend, hierhin und dorthin, ziellos, fahrig, unkonzentriert. Ich sitze in diversen Cafés, rauche eine nach der anderen. Ab halb zwölf kontrolliere ich im Sekundentakt Akkuleistung und Empfangsqualität meines Telefons. Ich werde mit Kuhle sprechen. Fünf, vier, drei, zwei, eins – jetzt .
    Doch nichts passiert. Ich überprüfe die Lautstärkeeinstellung des Klingelzeichens. Währenddessen finde ich mich plötzlich in einem Shop für Bilderrahmung wieder, dessen einsam wirkender Verkäufer mich freudestrahlend mustert. Ich wedele entschuldigend mit der Hand, seine Gesichtszüge entgleisen, während mir das Telefon beinahe runterfällt, und dann klingelt es plötzlich. Reflexartig schaue ich auf die Uhr, es ist kurz vor eins. Ich nehme das Gespräch an, ohne die Nummer zu checken.
»Tim?« Es ist Wolfgang. Mein Schwiegervater.
»Wolfgang. Was willst du?«
Er schweigt einen Moment, ich höre Papier knistern. »Können wir reden? Von Mann zu Mann?«
»Du willst von Mann zu Mann sprechen? Wie wäre es von Vater zu Vater? Aber dann müsstest du ja Norbert anrufen.«
    Er stöhnt. »Sehr witzig. Ich wusste das nicht, das musst du mir glauben.« Es fällt ihm schwer, das zu sagen, seine Stimme klingt brüchig und angestrengt. »Wir haben … wir wussten. Ach. Was soll ich sagen?«
    »Wie wäre es mit Entschuldigung ? Das wäre zumindest ein Anfang.«
»Es tut mir wirklich leid. Sehr leid. Ich wollte das nicht. Es war Giselas Idee. Ich habe das auch erst sehr viel später erfahren. Und das mit Norbert …« Er seufzt, atmet ruckartig, wie jemand, der gleich zu weinen anfängt. »Verdammt. Sie ist meine einzige Tochter. Und jetzt das.«
»Mein Beileid«, sage ich.
Ich höre ein merkwürdiges Piepen. Es kommt aus meinem Telefon. Aber der Akku ist voll, ganz sicher.
»Wir müssen … ich möchte … Junge, wir sind hier aufgeschmissen ohne dich.«
Was hat dieses blöde Piepen zu bedeuten?
»Könnten wir nicht irgendwie. Etwas vereinbaren. Wirklich, Geld ist nicht das Problem.«
»Mmh«, brumme ich. Das Piepen hört nicht auf.
»Du musst mir helfen.«
Scheiße! Das ist die Anklopffunktion! In Nieder-Sengricht hat mich ohnehin nur Gisela angerufen, aber auch höchst selten. Und jetzt versucht Kuhle, mich zu erreichen, während ich mit meinem verdammten zukünftigen Exschwiegervater rede. Wie zum Teufel … ich halte mir das Display vor das Gesicht. »Ankommender Ruf« steht da, und darunter: »Annehmen?« Aber welche Taste muss ich dafür drücken? Es ist immer dasselbe mit Computerleuten. Sie sind die Einzigen, die niemals Gebrauchsanleitungen lesen, weil sie es sowieso besser wissen.
»Wolfgang, ich rufe dich zurück«, sage ich, drücke die Taste zur Verbindungsunterbrechnung und rufe: »Hallo?«
Aber es ist niemand dran.
Ich wähle die Nummer, die mir in der Anruferliste angeboten wird. Meine Finger zittern, mein Kopf pocht.
»Kuhlmann.«
»Hallo, Kuhle«, flüstere ich. Meine Lider und meine Lippen flattern, meine Augen füllen sich mit Tränen. Ich setze mich auf den Fußboden, mitten in der Einkaufspassage.
»Hallo, Herr Krause«, sagt er. »Hallo, Tim.«
Es bricht heraus, ich heule laut und schubweise. Jemand fasst mich an die Schulter, aber ich schüttle abweisend den Kopf. Kuhle schweigt. Und nach einer Weile sagt er: »Ist ja gut.«
»Kuhle«, schniefe ich, und dann geht es von vorne los. Er hört mir schweigend zu, minutenlang, ich reiße mir das Shirt aus der Hose und wische mir übers Gesicht, wie am Freitag beim Auflegen.
»Hast du heute Abend Zeit?«, fragt er.
Ich nicke, ich kann nicht richtig reden. »Kuhle«, rufe ich wieder.
»Kannst du zu uns kommen?«
Zu uns kommen. Zu ihm und Sabrina. Ich kann. Ich will. Bitte.
»Ja«, bringe ich endlich heraus, fast schreiend.
»Ist ja gut«, wiederholt er. Und dann, fast fröhlich: »Alles ist gut. Aber ich muss jetzt zu einem Patienten. Silke gibt dir unsere Adresse. Bis heute Abend. Gegen halb acht?«
Ich nicke, dann ist er weg, und Silke muss mir die Adresse etwa zwanzig Mal ansagen, bis ich sie endlich richtig in den Minicomputer getippt habe.
Gegen drei bin ich wieder auf meinem Zimmer, jetzt ein wenig entspannter, fast schon fröhlich und erwartungsvoll. Kuhle und Sabrina sind verheiratet,

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