Geisterfahrer
Zeug weiß ich noch weniger, wie ich weitermachen soll, die Titeltabelle wird immer länger und unübersichtlicher, es ist, als müsste ich mich im Berliner Osten orientieren, gleich nach dem Mauerfall. Ich blinzle den Schweiß weg, wieder ein Titel, den ich nur heruntergeladen und nie angehört habe, ganz gruselige Mucke, völlig tanzuntauglich, und jetzt gerate ich wirklich in Panik. Zwei Mädchen bleiben auf der Tanzfläche stehen, sie sind vielleicht halb so alt wie ich und sehen mich an, als wäre ich mit einer Kopfabtrennung in die Notaufnahme eingeliefert worden. Schulterzuckend ziehen sie von dannen, ich habe versucht, ihnen ein Lächeln zu schenken, aber keine Kontrolle über mein Gesicht. Die Ärzte. Klar, ich könnte Die Ärzte auflegen. Aber ist das unter D, unter A oder unter Ä zu finden? Plötzlich ist es still, ich habe den Anschluss verpasst, klicke wieder irgendeinen Titel an, auf den der Cursor gerade zeigt, und dann ertönt doch tatsächlich »Sieben Fässer Wein« von Roland Kaiser. Im Augenwinkel sehe ich, wie einer der Barleute hochspringt und mir über die Köpfe der sich nach Getränken drängenden Gäste einen Vogel zeigt.
Zwanzig Minuten später ist der Spuk vorbei. Gitta kommt mit einem Typen an, den sie über sieben Ecken aus einem anderen Club abgeworben hat, schweineteuer, wie sie mir in knappen, die Wut kaum unterdrückenden Worten erklärt. Es sind die letzten Sätze, die sie mit mir spricht. Der Ersatzmann ist älter als ich; er würdigt mich keines Blickes, als er seinen Rechner aufstellt, meine Soundkarte kappt und in weniger als einer Minute online ist. Ich habe das Display meines Laptops noch nicht zugeklappt, da ertönen die ersten Takte eines Songs, den ich irgendwie kenne, aber nie in meinem Bestand gefunden hätte, und als ich kurz darauf das Podest verlasse, muss ich mich bereits durch eine dichte Menge von Tanzenden drängen. Ich renne raus, die Johannisstraße hoch, um die Ecke, und bis vor zur Friedrichstraße. Die Tasche mit meinem Laptop schlägt schmerzhaft gegen meine Schulter, aber ich muss weg hier, möglichst schnell, möglichst weit.
Als ich auf dem Bürgersteig der Friedrichstraße stehe, die nächtliche Sommerluft atme, eine Zigarette anzünde und nach einem Taxi Ausschau halte, muss ich plötzlich lachen. Was habe ich auch erwartet? Ich kann nicht einfach so tun, als wären die vergangenen sechzehn Jahre nie gewesen. Die Welt hat sich verändert. Und mit dem Muckemachen ist es wie mit vielem anderen.
Wenn man einmal raus ist, muss man wieder ganz von vorne anfangen.
14. Fickscheiße
Am Montag, nach einem langweiligen und ereignislosen Wochenende mit viel Schlaf, bin ich um halb sieben wach. Ab viertel acht sitze ich im Frühstücksraum, trinke Kaffee wie ein Wahnsinniger und wähle alle dreißig Sekunden die Nummer von »Kuhlmann, S. und M., Psychotherap. Praxis«.
Um sieben Uhr zweiundfünfzig geht endlich jemand ran.
»Praxis Kuhlmann«, sagt eine junge Frauenstimme, die genervt klingt. »Guten Morgen.« Es ist nicht Sabrina.
»Ja, äh. Guten Morgen.«
»Was kann ich für Sie tun?«
»Ja. Äh. Was bedeutet das M. im Namen der Praxis?«
»Bitte?«
»Wer ist M. Kuhlmann?«
»Mein Chef heißt Michael«, erklärt sie ein wenig widerwillig. »Mit wem spreche ich bitte?«
»Ja.« Fast hätte ich wieder »Äh« gesagt, während mir heiß und kalt wird, die Tasse klappert in meiner Hand. »Mein Name ist … äh … Krause . Können Sie mir sagen, wann Herr Kuhlmann erreichbar ist?« Ich huste vor Aufregung.
»Moment. Ich bin auch gerade erst gekommen.«
Das weiß ich. Ich höre ein Klackgeräusch, dann geschieht eine Weile nichts, schließlich ertönt die Windows-Begrüßungsmelodie.
»Moment noch, der Computer muss starten.«
Wir schweigen. Eine halbe Minute später klickert und klackert es, sie sagt: »Lahme Mistkiste«, aber nicht in den Hörer.
»Montag, der Vierundzwanzigste. Mmh. Herr Kuhlmann wird um zwölf in der Praxis sein. Aber einen Termin kann ich Ihnen heute nicht geben. Er ist ausgebucht. Würde es Ihnen … warten Sie. Am Freitag. Könnten Sie am Freitag? Gegen eins?«
»Ich will nicht behandelt werden. Ich möchte ihn nur sprechen.«
»Soll er Sie zurückrufen?«
»Das wäre klasse.«
»Krause sagten Sie?«
»Ja, Krause. Meine Nummer lautet …«
Sie unterbricht mich: »Danke, die habe ich schon. Sie steht auf meinem Display.«
»Super.«
»Tschüs.«
»Moment!«
»Ja?«
»Können Sie mir sagen … äh. Ob Ihr Chef. Michael Kuhlmann. Ist er
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