Geisterfahrer
gesehen kann das jeder. Aber es kommt auf das Was an, nicht so sehr auf das Wie. Ein guter Übergang nutzt nichts, wenn der Anschlusstitel nicht passt. Aber ein perfekt die Stimmung weitertransportierender, verstärkender Song, der kann auch nach einem zu früh heruntergezogenen Fader, einer peinlichen Pause von fünf, sieben Sekunden noch den Laden am Kochen halten, sogar wegen der Pause die Stimmung anheizen. Darum geht es. Ihnen zu geben, was sie wollen, und nicht ihnen zu geben, was man ihnen geben will. DJs sind Huren, die Zappler ihre Freier.
Ich kämpfte mit dem Kabel des Kopfhörers, ruckte zwischen den Plattenkoffern hin und her, hatte keine Idee, was ich folgen lassen sollte. Ich gab mir eine Denkpause, nahm einen Schluck Bier, sah hinab auf die Tanzenden, für die ich nicht mehr und nicht weniger als die Ursache der Geräusche war, die in ihre Körper fuhren und Tanzreflexe auslösten. Wenn überhaupt. Wahrscheinlich begriffen viele nicht einmal, dass die Mucke nicht vom Band kam. Vielleicht ging es auch genau darum: Ihnen das Gefühl zu geben, dass alles sowieso passiert und in der Hauptsache deshalb, weil sie es sind, die tanzen. Rekursion. Nicht ich war der Auslöser, sondern sie.
Der Druck, der während dieser sieben, acht, manchmal zehn Stunden auf mir lastete, war enorm. Sieben Stunden Musik, das waren hundertfünfzig Stücke, plus/minus. Eine Band spielte gerade mal zwanzig, wenn man Glück hatte, meistens sogar weniger. Gut, ich hatte eine Auswahl, die nicht dadurch eingeschränkt war, was sich Matthew, der Leadsänger und Songwriter der Band, ausgedacht hatte. In Abstimmung mit Cathleen, der Sängerin, die mit Andrew fickte, dem Schlagzeuger, manchmal auch mit Bart, dem Bassisten. Ich konnte aus dem Vollen schöpfen. Von Abba bis Zappa, wie ein Schallplatten-Einzelhändler mal geworben hatte. Aber Zappa auf Abba, das funktionierte nie. Abba, das ging, aber zu Zappa tanzte keine Sau. Was spielt man im Anschluss von »Under Pressure« von Queen und David Bowie? Genau.
Ab zwei wurde es entspannter. Das Publikum hatte einen Level erreicht, der vieles vereinfachte, auch für die Männer in Wohlfühlklamotten. Und mir ging es ganz ähnlich. Gedanken über Was und Wie wichen einer alkohol- und stimmungsgetränkten Routine, was keineswegs hieß, dass ich zu Schema F überging. In manch einer dieser Nächte wünschte ich mir, dieses Gefühl konservieren zu können, Experimentierfreudigkeit, gemischt mit solider Grundstimmung.
Plötzlich stand eine lächelnde Frau neben mir, die ich kannte. Es war kurz nach drei, das Publikum tobte zu einem Michael-Jackson-Titel, und ich sah nur kurz auf, um dann mit einem mich irritierenden Bild vor dem geistigen Auge auf Koffer zwei zu starren, auf der Suche nach etwas von Prince. Bevor ich etwas gefunden hatte, hob ich den Blick erneut, fand ein J, ein E, zwei N und ein Ypsilon. Discjockey-Scrabble. Da stand Jenny, und vermutlich hätte ich sie sofort erkannt, wäre das Lächeln nicht gewesen. Ich schluckte, verspürte eine wattierte Form von Panik, griff nach einer Platte, die tatsächlich von Prince war, grinste in Jennys Richtung, ohne sie anzusehen, cuete den Titel und schob den Kopfhörer in den Nacken.
»Was machst du denn hier?«, fragte ich, zwang mich, freundlich zu klingen.
Sie sah toll aus. Keine Rede von Nutten-Alltagsoutfit. Coole Designerjeans, ein unbedrucktes, weißes T-Shirt, die Frisur unaufdringlich. Eine wahrlich gutaussehende Anfangzwanzigerin, groß, schwarzhaarig, strahlend. Eine Frau, die für Margarine hätte Reklame machen können, sogar für Höschenwindeln, babymuttertechnisch. Man hätte ihr all das abgenommen. Hübsch. Zielperson für mehr als achtzig Prozent der anwesenden Herren. Ich verkackte den Übergang, zuckte entschuldigend mit den Schultern, aber das Publikum tanzte, so oder so, niemand nahm meine Geste wahr.
»Ich wollte dich überraschen«, antwortete sie. »Du warst schon seit ein paar Tagen nicht mehr bei uns.«
Ich nickte, der kleine Tim hob sich aus dem stumpfen Winkel, aber irgendwo in meinem Verdauungssystem kündigte sich gleichzeitig eine ganz leichte, latente Übelkeit an.
8. Flucht
Jenny machte mir keinen Morgenkaffee. Sie lag einfach da und schnarchte leise vor sich hin. Ich schlug die Augen auf, sah auf die Uhr – es war kurz vor halb drei, nachmittags. Ich kletterte geräuschvoll aus dem Bett, worauf sie nicht reagierte, schlurfte ins Bad, pisste etwa sieben Liter, ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Ich
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