Geisterfjord. Island-Thriller
Regalen gelegen hatten, stieg ein muffiger Geruch auf. Schon seltsam, dass die Krankenakten überhaupt noch existierten, seinerzeit hatten sie natürlich wichtige Informationen über die Patienten enthalten, aber nach deren Tod kaum noch Bedeutung gehabt. Freyr nahm einen Stapel nach dem anderen aus dem Karton und legte sie auf den Boden. Dann schlug er die erste Akte auf und begann zu lesen.
»Du warst am Telefon so geheimnisvoll, dass ich lieber direkt vorbeikommen wollte«, sagte Dagný. Sie hatte Freyrs Angebot, ihre Jacke aufzuhängen, dankend abgelehnt, und er wusste, warum: Er hatte das Fenster wegen des Staubs und des Geruchs der Papiere sperrangelweit aufgemacht und war so in die Unterlagen vertieft gewesen, dass er gar nicht gemerkt hatte, dass es drinnen inzwischen genauso kalt war wie draußen.
»Ich hoffe, du denkst nicht, ich hätte sämtliche losen Enden zusammengefügt. Davon bin ich weit entfernt.« Freyr setzte sich wieder. »Aber ich bin auf ein paar bemerkenswerte Dinge und unerwartete Verbindungen gestoßen.«
»Erzähl!« Dagný zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf. Sie lehnte sich über den Schreibtisch und starrte auf die alten Unterlagen. Dann rümpfte sie die Nase. »Kommt dieser Geruch von den Papieren?«
»Ja, leider. Aber ich kann sie zurück in den Karton stecken, wenn du willst. Ich weiß es einigermaßen auswendig.«
Dagný lehnte ab. »Falls mein Verdacht stimmt, schadet es nicht, wenn ich die Sachen vor Augen habe. Versteh mich nicht falsch, ich glaube dir, aber wenn da noch mehr wirres Zeug bei rauskommt, muss ich es mit eigenen Augen sehen.«
Freyr ließ die Unterlagen auf dem Tisch liegen. »Das ist genau das richtige Wort. Wirres Zeug.« Er suchte das erste Dokument heraus, von dem er ihr erzählen wollte, und reichte es ihr. »Das ist ein Brief der Schulkrankenschwester an den Chefarzt des Krankenhauses aus dem Jahr 1952, in dem sie ihre Sorgen über einen neuen Schüler, Bernódus Pjetursson, äußert.«
Dagný nahm den Brief sowie den Bericht der Krankenschwester über den Jungen entgegen und überflog ihn. »Igitt.« Sie legte beide Dokumente auf den Tisch, ohne den Bericht zu lesen. Freyr nahm es ihr nicht übel – die Beschreibungen der Narben des Jungen waren nicht sehr appetitlich. Die Krankenschwester hatte sich an den Arzt gewandt, weil der Junge zwei vernarbte Kreuze auf dem Rücken hatte, die mit einem Taschenmesser und einer glühenden Zigarette eingeschnitten und eingebrannt worden waren.
Freyr nahm die Papiere in die Hand. »Du sagst es. Der Vater des Jungen muss eine sehr schwere psychische Störung gehabt haben, die sich vielleicht noch verschlimmert hat, als er die Kontrolle über das Trinken verloren hat. Der alte Lehrer sagt, er hätte gehört, dass er den Jungen für den Tod seiner Frau und seines anderen Sohnes verantwortlich gemacht hätte. Die Misshandlung des Kindes bestätigt das wohl. Zwei Kreuze, zwei tote Angehörige. Bei dieser tragischen Geschichte fragt man sich, ob er den Jungen nicht tatsächlich umgebracht hat, wie auch immer er die Leiche anschließend entsorgt haben mag.«
»Ich kann mich nicht erinnern, in der Schule eine solche Untersuchung gehabt zu haben.« Dagný verschränkte die Arme über ihrer Jacke und rückte vom Tisch ab, so als wolle sie größtmöglichen Abstand zu den geschmacklosen Unterlagen haben. »Wir wurden ein paarmal geimpft, aber sonst nichts.«
»Dem Bericht nach wurde die Krankenschwester hinzugezogen, um mit dem Jungen zu reden und ihn zu untersuchen. Er hat sich geweigert, am Sportunterricht teilzunehmen, und als er einmal dazu gezwungen wurde, wollte er sich nicht umziehen, hat gemeint, er hätte keine Sportsachen, und wollte nur eine geliehene Hose anziehen. Und nach der Stunde wollte er auf keinen Fall duschen. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Jungen und dem Sportlehrer, die Kinder haben den Lehrer angefeuert, es gab einen Riesenaufstand, und am Ende landete die Sache auf dem Tisch der Krankenschwester. Der Lehrer hat den Jungen gezwungen, sich auszuziehen, und ihn unter den Anfeuerungsrufen seiner Klassenkameraden unter die Dusche gestoßen. Bernódus hat sich für seinen Rücken geschämt und wollte nicht, dass die anderen die Narben sehen. Du kannst dir also vorstellen, was das für ein Schock war. Er war erst zwölf Jahre alt.«
»Und warum wurde nichts unternommen? Dieser Brief ist einen Monat vor dem Verschwinden des Jungen abgeschickt worden, es wäre doch möglich
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