Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geisterfjord. Island-Thriller

Geisterfjord. Island-Thriller

Titel: Geisterfjord. Island-Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
Vom Netzwerk:
hinten in der Halle die Umrisse des Jungen sah. Er wirkte kleiner, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber wie beim letzten Mal stand er gebeugt da und starrte auf seine Zehen. Plötzlich schaute er auf. In dem Dämmerlicht wirkte seine Haut unmenschlich und grau, seine Augen waren groß und lagen tief in seinem eingefallenen Gesicht. Der Junge starrte sie an, öffnete den Mund und schrie stumm. Katrín wich entsetzt zurück, stolperte und fiel nach hinten. Im selben Moment stürzte ein großes Mauerstück über dem Loch, vor dem sie gerade noch gestanden hatte, nach unten und knallte tosend vor ihr auf den Boden. Sie bekam zwar ein paar schmerzhafte Steine ab, aber ihre Angst und ihr pochendes Herz waren viel schlimmer. Putti winselte und heulte, sprang zu ihr und drängte sich an ihr Bein. Der Staub, der aufgewirbelt worden war, nahm ihr fast komplett die Sicht.
    »Garðar! Garðar!«, rief Katrín warnend, bevor der Junge ihm etwas antun konnte. Der Staub legte sich allmählich, und es wurde wieder heller. Katrín war erleichtert, als sie sah, dass Garðar es gerade noch geschafft hatte, nach hinten zu springen, bevor das Mauerstück eingebrochen war. Aber er hatte auch etwas abbekommen. Seine Stirn und seine Wange bluteten, und er eilte humpelnd zu ihr.
    »Mein Gott, mein Gott!«, rief er entsetzt. Die Schreie hinter ihnen zeugten davon, dass Líf ebenfalls ihre Ruhe verloren hatte. »Hast du dir weh getan? Bist du verletzt?«
    Katrín spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen, erst warm, dann kalt, bis sie die salzige Flüssigkeit auf den Lippen schmeckte. Ihr Körper konnte nichts mehr ertragen. Nicht jetzt.
    »Meine Füße«, stöhnte sie und richtete sich mit Garðars Hilfe halb auf. Er wollte, dass sie sitzen blieb, während er ihre Verletzungen untersuchte. Obwohl ihr immer noch Tränen übers Gesicht liefen, wurde sie furchtbar wütend. »Ich bleibe keine Sekunde länger hier. Und wenn ich kriechen muss.« Im Bruchteil einer Sekunde beschloss sie, ihm nichts von dem Jungen zu erzählen, damit er nicht in dieses verdammte, lebensgefährliche Gebäude stürmen würde. Als sie endlich auf die Beine kam, hatte sie unerträgliche Schmerzen, aber sie kümmerte sich nicht darum, sie musste hier weg. »Líf! Komm her und nimm Putti auf den Arm. Er ist ein bisschen verletzt.« Sie stützte sich auf Garðar, der zwar versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber leise jammerte. Anscheinend hatte ihn ein Stein an der Schulter getroffen.
    Gemeinsam schleppten sie sich den Hang hinauf, während Putti auf Lífs Arm die ganze Zeit winselte. Als sie halb oben waren und Katrín vor Schmerzen fast aufgab, fiel ihr Blick auf die Seehunde, die immer noch an derselben Stelle herumplanschten. Sie verfolgten sie mit demselben trägen Interesse wie zuvor mit den Augen. Vielleicht verwirrten die schlechte Sicht oder die Schmerzen Katríns Sinne, aber auf einmal hatte sie den Eindruck, dass es gar keine Seehunde, sondern Menschenköpfe waren – Mutter und Sohn, die vor sechzig Jahren im Eis versunken waren.

22. Kapitel
    Auf dem Rückflug nach Ísafjörður verging die Zeit viel langsamer als auf dem Hinflug. Obwohl Freyr den ganzen Tag kaum die Augen offenhalten konnte, verschwand die Müdigkeit, sobald er den Sicherheitsgurt angelegt hatte. Es war zwar verlockend, die Augen zu schließen und Ort und Zeit zu vergessen, wenn auch nur für eine knappe Stunde, aber es gab zu viel, worüber er nachdenken musste. In ihm rumorten unangenehme Erwartungen, die ihn sogar dazu veranlassten, von der freundlichen Stewardess einen Kaffee entgegenzunehmen. Danach gab es kein Zurück mehr, und er verlor die Kontrolle über seine Gedanken.
    Es war, wie nachts wach zu liegen. Dann erschien einem alles unlösbar, und die kleinsten Probleme wurden riesengroß. Hallas Tod war in Reykjavík nicht klarer geworden, und Freyr musste sich eingestehen, gar nicht wirklich damit gerechnet zu haben, dass die Obduktion eine endgültige Antwort bringen würde. Außerdem war er enttäuscht, dass er Lárus, den Einzigen noch Lebenden aus der Schülergruppe, nicht erreicht hatte. Der Mann war nichts ans Telefon gegangen und hatte die Tür nicht aufgemacht, als Freyr mit einem Taxi zu ihm gefahren war. Denkbar, dass er trotzdem zu Hause gewesen war; die Wohnung lag in einem Wohnblock, in dem vielleicht die Klingel defekt war. Freyr hatte mehrmals geklingelt und war sogar einmal ums Haus herumgegangen, um die Fenster der Wohnung 5.03 zu suchen, ohne Erfolg.

Weitere Kostenlose Bücher