Geisterfjord. Island-Thriller
wollte kurz vorbeikommen und sehen, wie es Ihnen geht. Eigentlich wäre ich schon heute Morgen gekommen, aber ich musste nach Reykjavík.« Keine Reaktion. Freyr dachte schon, Úrsúla sei auf ihrem Stuhl eingeschlafen oder wegen Sauerstoffmangels ohnmächtig geworden, aber als er ganz dicht bei ihr stand, sah er, dass ihre Augen offen waren. Sie starrte auf die Gardine. »Wollen Sie die Vorhänge nicht aufziehen? Vielleicht fängt es wieder an zu schneien. Ich finde es immer total gemütlich, wenn es draußen schneit.«
Úrsúla schüttelte langsam den Kopf. »Nein, auf keinen Fall.« Ihre Stimme klang heiser, fast eingerostet. »Ich will nichts sehen.«
»Warum nicht?« Freyr zog einen Stuhl heran. Úrsúla schaute ihn nicht an und starrte weiter vor sich hin. »Glauben Sie, dass da draußen jemand ist? Ich versichere Ihnen, dass da nur ein paar Autos stehen, meins zum Beispiel.«
Plötzlich drehte die Frau Freyr den Kopf zu. »Da ist noch mehr draußen.« Sie starrte ihn wütend an, als hätte er etwas völlig Abwegiges behauptet. »Draußen ist noch mehr als Autos.«
»Was denn?« Freyr blieb ganz ruhig.
Úrsúla wandte sich mit einer schnellen Bewegung wieder der Gardine zu. »Der Junge.«
»Der Junge?« Freyr runzelte die Stirn. »So spät nicht mehr, Úrsúla. Vielleicht war tagsüber ein Junge auf dem Parkplatz, aber jetzt sind alle Kinder zum Abendessen nach Hause gegangen. Sie brauchen keine Angst vor den Kindern zu haben, sie tun Ihnen nichts.« Úrsúla kniff die Lippen zusammen und schwieg. Freyr beobachtete sie und überlegte, wie er das Gespräch am besten am Laufen halten konnte. Es war ungewöhnlich, dass sie so viel redete, und er wollte es nicht vermasseln. »Wollten Sie mit mir über Kinder reden? Darüber können wir gerne sprechen, ich kann Ihnen Geschichten von einem kleinen Jungen erzählen, den ich mal gut kannte. Er war oft frech, aber eigentlich ein lieber Junge. Das ist das Wichtigste, das wissen Sie ja.«
»Geschichten von Benni?« Die Frau verzog keine Miene, und Freyrs Unterkiefer klappte nach unten. Wo zum Teufel hatte sie von seinem Sohn gehört?
»Nein, nicht von Benni.« Freyr bemühte sich, sich nichts anmerken zu lassen. »Was wissen Sie denn über Benni? Können Sie mir vielleicht was über ihn erzählen?«
Wieder schüttelte sie langsam und träge den Kopf. »Nein, ich weiß nichts über ihn.« Sie schluckte. »Ich kenne Benni nicht.« Sie schloss die Augen. »Glauben Sie, dass Blinde Dinge sehen, wenn sie träumen?«
Freyr hatte keine Ahnung. »Wer früher mal sehen konnte bestimmt, aber wer blind geboren ist, wohl kaum. Denke ich zumindest. Warum fragen Sie das?«
»Ich will nichts mehr sehen. Es ist besser, im Dunkeln zu sein.«
»Das stimmt nicht.« Freyr wartete darauf, dass Úrsúla die Augen wieder öffnete, aber sie machte keine Anstalten und saß weiter mit geschlossenen Augen da, unbeweglich wie eine Statue. »Es ist viel besser, sehen zu können. Das Schöne in der Welt ist zum Glück viel auffälliger als das Hässliche. Wenn Sie mehr spazieren gehen würden, würden Sie das selbst sehen und merken, dass ich recht habe. Wollen Sie es nicht mal versuchen? Wenn ich unrecht habe, höre ich auch auf, Sie damit zu nerven.«
»Ich will nicht rausgehen. Nicht hier. Ich weiß genau, was ich sehen werde.«
»Und was werden Sie sehen?«
»Den Jungen.« Sie kniff die Augen so fest zu, dass ihre kurzen, hellen Wimpern fast in den Augenhöhlen verschwanden. »Ich will keine Augen mehr haben.« Freyr sah, dass ihre verkrampften Hände auf den Stuhllehnen weiß wurden.
»Was ist das für ein Junge, Úrsúla? Kenne ich ihn?«
Sie schüttelte den Kopf, und Freyr versuchte es noch einmal: »Ist er von hier?« Úrsúla schwieg und machte keine zustimmende oder ablehnende Kopfbewegung. »Wie heißt er? Oder hat er keinen Namen?«
Die Frau schlug die Augen auf und schaute Freyr an. Die Angst in ihrem Gesicht war erschütternd, ihr krankes Hirn hatte sich eine neue, bedrohliche Wirklichkeit zurechtgelegt, der sie nicht entfliehen konnte. Als wäre die echte Wirklichkeit nicht schon schlimm genug.
»Bernódus«, sagte sie und eine Träne lief über ihre Wange. »Er wartet draußen auf mich.« Sie wischte die Träne mit ihrer knochigen Hand weg. »Er ist wütend auf mich. Sehr wütend.« Plötzlich schlug sie die Hände vors Gesicht und bohrte ihre Fingernägel so fest in ihre Augenbrauen, dass Blut herausquoll. Bevor Freyr sie zurückhalten konnte, hatte sie ihre Haut
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