Geisterflut
Geistererscheinungen - das war hier die Frage.
Die Mortons standen nur da, sahen sie ein wenig verdutzt an und warteten darauf, dass sie den Satz zu Ende sprach. Sie selbst hatten nichts bemerkt - oder vielleicht hatten sie es bemerkt und beobachteten sie nun gespannt, ob sie etwas dazu sagen würde.
Na klar. Das Bild hatte wie ein Trickfilm ausgesehen, weil es genau das war: eine Bildprojektion. Beim nächsten Besuch würde sie nach dem Projektor suchen. Wahrscheinlich war er hinter dem Frisierkommodenspiegel versteckt. Dieser Gedanke war tröstlich, änderte aber nichts daran, dass ihr der kalte Schweiß auf der Stirn stand.
»... Abend«, schloss sie. »Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie so lange aufgehalten habe. Sie hören dann wieder von mir.«
7
»Der Beruf des Debunkers erscheint vielen als
der reizvollste, den die Kirche zu bieten hat, doch man sollte
bedenken, dass nur sehr wenige Personen über die Fähigkeiten,
die Intelligenz und vor allem die Integrität verfügen,
die dieser Beruf erfordert.«
Karriere machen in der Kirche. Ein Ratgeber für junge Leute,
von Praxis Turpin
Sie war noch vollkommen aufgedreht, konnte aber nirgends mehr hin. Zumindest nicht bis drei Uhr, wo sie die Ermittlungen im Haus der Mortons fortsetzen wollte.
Der Markt hatte geschlossen. Bump hatte noch auf - der machte niemals zu -, aber darauf hatte sie keinen Bock. Sie hatte ja auch alles, was sie brauchte.
In ihrer kleinen Wohnung schienen ihr die Wände auf die Pelle zu rücken, und die fahlen Farben des Buntglasfensters glitten über die Oberflächen, als würden sie sie verfolgen.
Wieso nicht rausgehen und Zigaretten holen? Der kleine Laden unten an der Ecke hatte dank einer Sondergenehmigung rund um die Uhr geöffnet. Ja, das wäre doch nett. Ein kleiner Spaziergang an der kühlen Nachtluft würde ihr helfen, den Kopf wieder klar zu kriegen.
Was zum Teufel war das vorhin gewesen? Sie hatte so etwas noch nie gesehen. Ob Projektion oder nicht — es hatte wirklich bedrohlich gewirkt. Sie hätte glatt loskreischen können, wenn es sich nach ihr umgedreht und sie angesehen hätte.
Es war doch sonst gar nicht ihre Art, so paranoid zu werden. Vielleicht sollte sie etwas essen. Ein bisschen runterkommen und ihrem übersäuerten Magen etwas Gutes tun. In dem kleinen Laden gab es auch allerlei Kleinigkeiten zum Futtern.
Sie nahm einen Zwanzigdollarschein, schnappte sich dann auch noch ihr Messer und steckte es sich in die Hosentasche. Ganz allein und unbewaffnet in Downside herumzulaufen wäre keine gute Idee. Dann ging sie hinaus und schloss alle drei Türschlösser hinter sich ab.
Das Haus, in dem sie wohnte, war früher einmal eine katholische Kirche gewesen - ehe die Kirche der Wahrheit alle anderen Religionen überflüssig gemacht hatte.
Die meisten alten Gotteshäuser waren mittlerweile verfallen. Gebäude von historischer Bedeutung oder einem gewissen ästhetischen Wert aber durften erhalten bleiben. Auf Chess’ Haus traf beides zu, und sie war froh, dort zu wohnen, auch wenn die zusätzlichen Etagen, die man eingezogen hatte, dem Charme des Ganzen ziemlich entgegenwirkten.
Es war aber immer noch eins der schönsten Häuser von ganz Downside. Und die Luft außerhalb ihrer Wohnung erschien ihr frisch, trotz des vagen Abfall- und Abgasgestanks, der hier nie und nirgends gänzlich verschwand.
Die schwere Flügeltür des Hauseingangs stand offen und rahmte den Blick auf die verwaiste Straße. Das war seltsam. Die Haustür war normalerweise abgeschlossen. Vielleicht hatte Mrs. Radcliffe aus dem ersten Stock sie offen stehen lassen. Die alte Dame kostete es große Mühe, die schwere Tür zu bewegen, und sie vergaß ganz gern, in was für einer Gegend sie hier lebte.
Oder die Schuld lag bei den vier Mitgliedern von Slobags Bande, die ihr da im dunklen Schatten der massiven Türflügel auflauerten. Chess griff nach ihrem Messer, wusste aber schon, dass es nutzlos war. Eine Hand schloss sich um ihren Mund, ehe sie ihn aufreißen konnte, um zu schreien, und das Pieksen einer Nadel war das Letzte, was sie spürte, als ihr die Sinne schwanden.
Chess wurde von einem sehr vertrauten Juckreiz wach. Vielleicht auch von dem ausgesprochen unangenehmen Gefühl, auf kaltem Betonboden zu liegen. Hauptsächlich aber von dem Juckreiz, da war sie sich ziemlich sicher. Es ging von den Handflächen und Fußsohlen aus, kroch die Arme und die Beine hinauf, breitete sich in der Brust aus und stieg bis in die Kehle, so als
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