Geisterflut
ließ den Blick rastlos über sämtliche Gegenstände im Raum schweifen, ohne bei irgendetwas zu verweilen, als versuchte er, aus ihren Sachen über sie schlau zu werden und einen Hinweis darauf zu erhalten, wie er sie am besten wieder ins Bett bekam.
Chess nahm zwei Bier aus dem beinahe leeren Kühlschrank und reichte ihm eins, froh, dass ihre Hände etwas zu tun hatten. Dann ließ sie sich auf der Sofalehne nieder, die Füße auf dem Sitzkissen und die Beine als Barriere zwischen ihnen.
»Was hast du denn mit deiner Hand gemacht?«
Verdammt noch mal - würde sich denn nun jeder nach ihrer Hand erkundigen? »Hab mich an ’nem Dosenöffner geschnitten.«
»Warst du damit im Krankenhaus?«
»Nö.«
»Zeig mal her.« Er streckte ihr eine Hand entgegen, damit sie ihre hineinlegte. Das tat sie auch, obwohl ihr zahlreiche bessere Gesprächsthemen einfielen als ihre Handverletzung.
Er löste den Verband. »Das sieht aus, als würde es sich entzünden.«
Tatsächlich? Ja, vermutlich schon. Der rote Rand auf ihrem Handteller sah breiter aus als in der Nacht zuvor, und rings um die Wunde war die Haut geschwollen. Sie versuchte die Finger darüber zu schließen. »Das wird schon wieder.«
»Es muss wahrscheinlich genäht werden. Hast du die Wunde gesäubert?« Er ließ ihr Handgelenk nicht los.
»Natürlich hab ich die gesäubert. Ich bin doch nicht doof.«
»Komm, ich schau mir das noch mal an.«
Sie riss ihre Hand weg. »Ich bin durchaus in der Lage, die Wunde selbst zu versorgen, Doyle.«
»Du hattest den Verband zu fest gebunden, und es sieht so aus, als wären am Rand noch ein paar kleine Schmutzpartikel drin. Ich meine es ernst, Chess: Lass mich das für dich machen. Hol mal deine Erste-Hilfe-Sachen. Wattebäusche, Verbandszeug und Salben. Und bring mir auch ein Messer oder so was.«
»Oh nein. Keine Messer.«
»Es wächst aber schon über der Entzündung zu.«
»Dann gehe ich eben morgen damit ins Krankenhaus.«
Doyle verschränkte die Arme vor der Brust. »Mein Vater ist Arzt, und ich hab ihm Dutzende Male dabei zugesehen, wie er meine Freunde behandelt hat. Hol das Verbandszeug.«
Ihre Handfläche fühlte sich steif an, als sie im Bad den Lichtschalter betätigte. Vielleicht hatte Doyle Recht. Vielleicht wäre es sogar ganz nett, jemanden zu haben, der sich um sie kümmerte. Das wäre mal eine ganz neue Erfahrung. Sie sollte aufhören, so griesgrämig und argwöhnisch zu sein und sich einfach mal entspannen. War es nicht etwas ganz und gar Normales, dass Menschen einander halfen?
Sie legte ein Handtuch auf den Toilettendeckel und begann, ihre medizinischen Utensilien darauf zusammenzutragen. Debunker mussten oft in enge Dachkammern und Kriechkeller vordringen und sich durch Luftschächte kämpfen. Kleinere Verletzungen waren dabei an der Tagesordnung. Ein paar Jahre zuvor war Atticus Collins sogar mal von einer Ratte gebissen worden.
Da war es schon seltsam, dass sich diese Wunde nun entzündet hatte, wo sie doch normalerweise so sorgsam mit ihren Verletzungen umging. Doch andererseits war es auch nicht gerade gesundheitsförderlich gewesen, fast vierundzwanzig Stunden lang in einem Verlies zu sitzen. Von der anschließenden Ganzkörperbehandlung mit Kloakenschlamm ganz zu schweigen.
Ihre Messer befanden sich in der Küche, und sie nahm stattdessen eine Rasierklinge. Je schärfer die Schneide, desto geringer der Schmerz. Sie leckte mit der Zungenspitze an den flachen Seiten der Schneide entlang, nur um sicher zu gehen, dass dort keine Rückstände klebten. Es klebten dort Rückstände.
Schließlich meinte sie, alles beisammen zu haben: ein Antiseptikum, Wattebäusche, Mullbinden, eine antibiotische Salbe, die Rasierklinge und eine Stecknadel. Sie warf schnell noch eine Cept ein - schließlich würde es wehtun - und ging dann mit dem Handtuchbündel zurück ins Wohnzimmer.
Doyle kniete vor dem Bücherregal und blätterte in ihrem Exemplar von Unterwegs. »Du hast echt viel Zeug aus der Zeit vor der Wahrheit«, sagte er. »Ich wusste ja gar nicht, dass du auf so was stehst.«
»Ich interessiere mich für Geschichte. Und ich lese gern.«
»Aber das ist echt alles aus der Zeit vor der Wahrheit.«
»Es interessiert mich halt. Es ist ja nicht so, dass das verbotene Bücher wären. Das ist große Literatur.«
»Ich weiß, es ist nur ... Mir schien immer, dass du nur für den Augenblick lebst.« Er stellte das Buch ins Regal zurück. »Ich hab dich immer als jemanden gesehen, der keine
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