Geisterflut
Vergangenheit hat und sich daher auch nicht für die Vergangenheit interessiert.«
»Weil ich eine Waise bin und nicht weiß, wer meine Vorfahren waren, dürfte ich deiner Meinung nach also nicht lesen?«
»Nein, nein, so hab ich das nicht gemeint. Ich find das sogar super.«
Einen Moment lang überlegte Chess, noch weiter darauf einzugehen, ließ es dann aber bleiben. Wer seine Familie zwei Jahrhunderte weit zurückverfolgen konnte, verstand ohnehin nicht, was für ein Gefühl es war, gar nicht zu wissen, wie man wirklich hieß, und sie hatte auch keine Lust, das zu erklären. Er hatte sie schon nackt gesehen. Sie musste nicht auch noch einen Seelenstriptease vor ihm abziehen.
Daher hielt sie ihm stattdessen das Handtuch hin. »Voilà.«
»Ich hab gerade gedacht, wir sollten das wahrscheinlich besser im Badezimmer tun. Da ist besseres Licht, nicht wahr?«
Ihr war’s egal. Das hier war seine Show. Sie gingen ins Bad, und sie setzte sich auf den Toilettendeckel und hielt die Hand übers Waschbecken.
Er wusste tatsächlich, was er tat. Seine Finger bewegten sich flink und geschickt, aber auch sanft. Er säuberte ihre Handfläche mit dem Antiseptikum und den Wattebäuschen und wischte anschließend auch die Rasierklinge damit ab.
»Also gut, mach dich bereit.«
»Ich bin bereit.« Chess setzte sich aufrechter hin. Sie vertraute ihm durchaus, doch wenn er sich mit einer Rasierklinge an ihr zu schaffen machte, wollte sie das auf alle Fälle im Blick behalten.
Er fuhr mit der Schneide am äußeren Wundrand entlang und zog dabei auf der geröteten Handfläche eine feine, blutige Linie. Nachdem er halb herum war, wurde das Blut heller, da nun auch klare Flüssigkeit hervorquoll.
»Eklig«, sagte sie.
»Ja, irgendwie schon, nicht wahr?« Er schenkte ihr ein schnelles Lächeln. »Aber wenigstens kommt es raus. Stell dir mal vor, das hätte sich unter der Haut angesammelt und wäre nekro-«
»Nekrotisiert? Wäre das wirklich passiert?«
»Hast du eine Pinzette?«, fragte er mit erstickter Stimme, so als hätte er gerade etwas gesehen, das ihm Angst einjagte.
»Liegt auf dem Bord. Was ist denn?«
»Nichts.«
»Lüg nicht! Was ist los?«
Er hielt ihre Hand fester und griff mit der anderen Hand nach der Pinzette. »Nicht bewegen.«
»Was ist? Au! Scheiße! Was machst du da?«
Das nächste Wort blieb ihr im Halse stecken, als er die Pinzette wieder aus der Wunde zog. An ihrer Spitze hing ein kleiner, dicker Wurm.
Er wand sich und zappelte wie ein Fisch auf dem Trockenen. Chess hätte sich fast auf der Stelle übergeben. Blut - ihr Blut - tropfte von dem obszön anmutenden Tier. Dann zog es sich plötzlich wie im Todeskampf zusammen.
Doyle öffnete die Pinzette. Der Wurm fiel ins Waschbecken und regte sich nicht mehr.
»Doyle, was ist das? Was verdammt noch mal ist das?«, kreischte sie förmlich.
»Ich weiß es nicht. Scheiße. Chess, halt still.«
»Ist das ...« Sie schluckte. »... eine Made?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
Er zog noch vier weitere aus der Wunde. Erst dann waren sie fertig.
11
»An abgeschiedenen Orten finden sich oft
verschollene Seelen.«
Das Buch der Wahrheit, »Veraxis«, Artikel 178
»Chess! Baby! Dann hat Terrible dich also doch nicht platt gemacht!« Edsel lehnte sich lächelnd auf seinem wackligen Stuhl zurück. Fahler Sonnenschein glänzte auf den silbernen Talismanen, die an einem Ständer in der Ecke seines Stands hingen, und warf helle Flecken auf den zerlumpten, burgunderroten Vorhang hinter ihm. Es ging auf zwölf Uhr zu, und in Edsels Stand herrschte noch Durcheinander.
»Du klingst enttäuscht.«
»Ich bin doch nie enttäuscht, wenn ich dich seh, das weißt du doch. Womit kann ich dir heute dienen? Hast du die Hand schon ausprobiert? Ich hab ein paar neue Schlaftränke reingekriegt, falls das was für dich wär.«
»Schlaftränke?«
Er zuckte mit den Achseln. »Du siehst müde aus.«
Ach verdammt, sie hätte daheim noch einen Muntermacher einwerfen sollen.
Nachdem Doyle am vorigen Abend endlich gegangen war, hatte sie stundenlang nicht einschlafen können und sich im Bett hin- und hergewälzt. Vermutlich wären nur die wenigsten Leute in der Lage gewesen, friedlich einzuschlafen, nachdem sie mitangesehen hatten, wie man ihnen blutige Würmer aus dem Körper zerrte.
Diese Bilder - und etliche andere, sogar noch unangenehmere - hatten sie bis in den Schlaf verfolgt, und kurz nach Tagesanbruch war sie schließlich wieder aufgestanden.
»Mir geht’s gut«,
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