Geisterhauch (German Edition)
bitte.« Ich klatschte seine Wangen. Seine Lider flatterten. Die Wimpern waren dunkelrot von Blut. Sofort ging er auf mich los. Sein schwarzer Umhang materialisierte um uns beide, als eine Hand hervorstieß und sich um meine Kehle schloss. Beim nächsten Herzschlag wurde ich gegen die Duschwand geworfen, und vor meinem Gesicht blinkte eine scharfe Klinge.
»Reyes«, sagte ich schwach. Mir schwanden die Sinne, so präzise war der Druck um meinen Hals dosiert. Ich konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, nur Schwärze, den wallenden Umhang, der zu ihm gehörte wie ein Körperteil und seine Identität selbst vor mir verbarg. Die Welt verschwamm zuerst, dann begann sie sich um mich zu drehen. Ich wehrte mich gegen seinen Schraubstockgriff, aber so sehr ich glauben wollte, dass ich mich tapfer schlug, erschlaffte ich doch beinahe sofort und konnte kaum noch den Arm heben.
Ich fühlte, wie er sich gegen mich drückte, als mir vollends schwarz vor Augen wurde, dann hörte ich seine Stimme, die mich wie Rauch zu umwabern schien. »Hüte dich vor dem verwundeten Tier.«
Dann war er weg, und die Schwerkraft tat ihre Wirkung. Ich fiel auf den Boden der Dusche, diesmal aufs Gesicht, und tief im Hinterkopf wusste ich, das würde richtig unangenehm werden.
Am Tag meiner Geburt geschah etwas sehr Seltsames. Als ich den Schoß meiner Mutter verließ, wartete eine dunkle Gestalt auf mich. Jemand im Kapuzenumhang, der um ihn wallte und durch den Kreißsaal wogte wie schwarzer Rauch bei sanftem Wind. Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich, dass er beobachtete, wie der Arzt die Nabelschnur durchtrennte. Obwohl ich seine Finger nicht fühlte, wusste ich, dass er mich berührte, als die Schwestern mich wuschen. Obwohl ich seine Stimme nicht hörte, wusste ich, dass er meinen Namen raunte.
Er war so mächtig, seine bloße Anwesenheit raubte mir die Kraft und machte das Atmen schwer. Ich hatte Angst vor ihm. Als ich älter wurde, entdeckte ich, dass er das Einzige war, wovor ich Angst hatte. Wovor andere Kinder sich üblicherweise fürchteten, machte mir nicht das Geringste aus, und das war auch gut so, denn ich war ständig von Toten umgeben. Vor ihm hatte ich Angst, obwohl er nur in Augenblicken äußerster Not erschien. Er rettete mir mehr als einmal das Leben. Wieso fürchtete ich ihn dann? Warum nannte ich ihn dann den Großen Bösen, wenn er doch gar nicht böse zu sein schien?
Vielleicht wegen der Macht, die ihn umwehte und mich absorbierte, wenn er in der Nähe war.
Fünfzehn Jahre später, in einer kalten Nacht in Albuquerque sah ich Reyes Farrow zum ersten Mal. Meine ältere Schwester Gemma und ich waren für ein Schulprojekt in einem ziemlich üblen Stadtviertel unterwegs. Wir bemerkten, dass hinter dem Fenster einer kleinen Wohnung etwas passierte, und sahen dann entsetzt, wie ein Mann einen Jugendlichen verprügelte. In dem Moment gab es nur einen Gedanken: ihn retten. Irgendwie. Weil mir nichts anderes einfiel, warf ich einen Ziegelstein durchs Fenster. Das wirkte. Der Mann hörte auf zu prügeln. Leider kam er stattdessen aus dem Haus gestürmt. Wir rannten durch eine Brandgasse bis zum nächsten Zaun. Als wir nach einer Öffnung suchten, entdeckten wir, dass der Junge ebenfalls entkommen war. Wir sahen ihn zusammengekrümmt hinter dem Wohnhaus liegen und liefen zurück.
Sein Mund war blutig geschlagen. Wir fanden heraus, dass er Reyes hieß, und wollten ihm helfen, aber er lehnte ab und ging, damit wir ihn in Ruhe ließen, sogar so weit, uns zu drohen. Das war meine erste Lektion über die Unbegreiflichkeiten der männlichen Psyche gewesen. Doch nach diesem Vorfall war ich nicht komplett überrascht, als ich gut zehn Jahre später erfuhr, dass Reyes für den Mord an diesem Mann zehn Jahre im Gefängnis saß.
Das war nur eins von den vielen Dingen, die ich kürzlich über ihn herausgefunden hatte, nicht zuletzt die Tatsache, dass Reyes und der Große Böse, der seit dem Tag meiner Geburt über mich wachte, ein und derselbe waren. Er war es, der mir immer wieder das Leben gerettet hatte, der mich als dunkler Schatten aus der Dunkelheit beobachtete, um mich zu schützen, und der das Einzige war, wovor ich als Kind Angst gehabt hatte.
Es war außerdem eine atemberaubende Erkenntnis, dass dieses geisterhafte Wesen meiner Kindheit ein Mann aus Fleisch und Blut war. Allerdings konnte er seinen Körper verlassen und durch Raum und Zeit reisen. Innerhalb eines Augenblicks konnte er entmaterialisieren. Genauso
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