Geisterhauch (German Edition)
er betrachtet hatte. Darauf war ich als Sechsjährige zu sehen. Mein Pony war schief; und meine Schneidezähne fehlten. Trotzdem aß ich Wassermelone. Der Saft lief mir die Finger hinunter und übers Kinn. Doch was meine Aufmerksamkeit fesselte und auch meinen Dad interessiert hatte, war ein dunkler Schatten hinter meiner Schulter. Ein verschmierter Fingerabdruck bewies, dass Dad genau diese Stelle betrachtet hatte.
Ich blickte auf das oberste Brett eines Bücherregals unter seinem Arrangement heiterer Familienmomente. Er hatte diverse Fotos von mir herausgelegt, und auf jedem war irgendwo im Hintergrund ein dunkler Schatten zu erkennen, und darauf ein Fingerabdruck. Mir drängte sich die Frage auf, was Dad da machte. Und natürlich, was der dunkle Schatten bedeutete, denn der war selbst mir neu. Hatte das etwas damit zu tun, dass ich Schnitterin war? Oder war es vielleicht Reyes in seinem dunklen Umhang? Der Gedanke faszinierte mich. Während meiner Kinder- und Jugendzeit hatte ich ihn nur wenige Male gesehen. War er häufiger bei mir gewesen? Hatte über mich gewacht? Mich beschützt?
Als ich doch noch in meinem Büro ankam, warteten dort zwei Männer in gepflegten dunkelblauen Anzügen auf mich. Sie standen auf und gaben mir die Hand.
»Ms Davidson«, sagte einer. Er zeigte mir seinen Ausweis und steckte ihn wieder ins Jackett. Genau wie im Fernsehen. Es sah voll cool aus, und mir wurde klar, dass ich, wenn ich ernst genommen werden wollte, eine Jacke mit Innentasche brauchte. Gewöhnlich steckte meine in Plastik eingeschweißte Ermittlerlizenz in der hinteren Hosentasche, wo sie verbogen, geknickt und gründlich verschandelt wurde.
Der andere Agent tat dasselbe. Er gab mir die Hand und zückte mit der anderen seinen Ausweis. Gut aufeinander abgestimmt die beiden… Und sie sahen aus wie Brüder. Einer war ein paar Jahre älter, aber beide hatten einen hellblonden Bürstenschnitt und wasserblaue Augen, die mir in jeder anderen Situation nicht annähernd so unheimlich erschienen wären.
»Ich bin Agent Foster«, sagte der Erste, »und das ist Special Agent Powers. Wir untersuchen das Verschwinden von Mimi Jacobs.«
Als der Name fiel, stieß Cookie einen Becher mit Stiften um. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, hätte sie nicht versucht, ihn aufzufangen, denn dabei riss sie prompt eine Lampe um. Während Kulis und andere Schreibgeräte über den Schreibtisch purzelten, fiel die Lampe über die Kante und prallte, weil Cookie das Kabel zu fassen bekam, auf halbem Weg nach unten gegen die Schreibtischfront. Erschrocken von dem lauten Schlag riss sie daran, sodass die Lampe heraufschnellte und gegen die Rückseite des Monitors prallte. Dabei riss sie einen Keramikdackel um, den Amber ihr zu Weihnachten geschenkt hatte.
Geschickt.
Nach dem Fünf-Minuten-Trailer von Die Jungen und die Unfallgefährdeten – über den ich noch Monate kichern würde – drehte ich mich zu unseren Besuchern um. »Möchten Sie mit in mein Büro kommen?«
»Sicher«, sagte Agent Foster, der Cookie ansah, als sollte man sie wegschließen.
Während ich vorausging, warf ich ihr einen perfekten fassungslosen Blick zu. Sie schlug die Augen nieder. Zum Glück war der Dackel in den Papierkorb gefallen und weich gelandet. Sie fischte ihn heraus, ohne noch einmal aufzusehen.
»Tut mir leid, aber ich wüsste nicht, dass ich schon mal von einer Mimi Jacobs gehört hätte«, sagte ich und goss mir einen Kaffee ein, während die Herren vor meinem Schreibtisch Platz nahmen. Das war das Schöne an Cookie: Bei ihr war der Kaffee immer frisch und die Umarmungen warm. Oder vielleicht auch umgekehrt, der Kaffee warm und die Umarmungen frisch. Jedenfalls konnte man bei ihr niemals verlieren.
»Sind Sie sicher?«, fragte Foster. Er schien mir der junge Draufgänger zu sein. Nicht gerade mein Geschmack, aber ich versuchte, mich nicht vom ersten Eindruck beeinflussen zu lassen. »Sie wird seit fast einer Woche vermisst, und auf ihrem Schreibtisch lag lediglich ein Notizblock, auf den sie Ihren Namen und Ihre Telefonnummer gekritzelt hatte.«
Die musste sie notiert haben, als sie mit Cookie telefonierte. Ich rührte in meinem Kaffee und schaute unschuldig wie ein Reh. »Wenn sie seit einer Woche vermisst wird, wieso kommen Sie dann erst jetzt zu mir?«
Der Ältere, Powers, war sichtlich verärgert, wahrscheinlich weil ich ihm mit einer Gegenfrage gekommen war. Offenbar war er daran gewöhnt, dass man seine Fragen beantwortete. Affig. »Wir haben
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