Geisterreigen
Hunter wird schon auf dem Weg sein", meinte Mrs. March, nachdem sie die junge Frau zu Bett gebracht hatte. "Sicher wird es Ihnen bald besser gehen."
Diana umfaßte die Hand der Köchin. "Es war nicht der Fluch", sagte sie schläfrig. "Wer weiß, wie morsch die Brunnenabdeckung gewesen ist."
"Ich wünschte, ich könnte daran glauben, Miß Diana", meinte Edith March besorgt und griff nach dem Glas heiße Milch, das Agnes nach oben gebracht hatte. Fürsorglich hielt sie es der jungen Frau an die Lippen.
7.
Es dauerte ein paar Tage, bis sich Diana von ihrem Abenteuer erholt hatte. Dr. Hunter hatte ihre Schürfwunden behandelt, ihr eine Tetanusspritze gegeben und ein leichtes Beruhigungsmittel. Mr. March hatte dafür gesorgt, daß der zerbrochene Brunnendeckel geborgen wurde. Wie sich bei einer eingehenden Untersuchung herausstellte, war der Deckel tatsächlich in seinem mittleren Teil morsch gewesen. Dennoch waren fast alle Leute in der Umgebung überzeugt, daß der Fluch, der über den Rowlands hing, Diana fast das Leben gekostet hätte.
Die junge Frau wollte nicht daran glauben, obwohl sie sich noch sehr gut der Kinder erinnerte, die sie unten am Strand ges ehen hatte. Außerdem gab es keine Erklärung dafür, wodurch sich die Mohnblüte aufgelöst hatte. Was ihr jedoch am seltsamsten erschien, war der kurze Lichtstrahl, der plötzlich für den Bruchteil einer Sekunde den Schacht erhellt und ihr die Griffe in der Wand gezeigt hatte.
Einige Tage nach ihrem Unfall fuhr Diana nach Alberry hi nunter. Es wurde allerhöchste Zeit, daß sie sich um das Grab ihres Großonkels kümmerte. Sie hoffte allerdings, daß sie das Glück haben würde, nicht wieder Reverend Lansing über den Weg zu laufen.
Als die junge Frau vor dem Bürgermeisteramt ihren Wagen verließ, blieben einige Leute stehen und beobachteten, wie sie den Platz überquerte und zum Friedhof ging.
Diana wandte sich nicht um. Sie wollte den Leuten nicht zeigen, daß sie ihre Blicke genau spürte und diese sie störten. Irgendwann würden sich die Bewohner von Alberry schon daran gewöhnen, daß sie sich entschlossen hatte, auf Rowland Castle zu bleiben.
Mr. March hatte ihr den Weg zum Familiengrab der Rowlands beschrieben. Aber sie hätte es ohnehin nicht verfehlen können, da die gewaltige Gruft den Friedhof regelrecht beherrschte.
Als Diana die mit Marmorplatten verkleidete Grabkapelle betrat, kam es ihr vor, als würden Generationen der Rowlands auf sie herabblicken. In den Wände waren die Namen und Daten ihrer Vorfahren eingemeißelt. Auch Charles Lord Rowland war hier begraben worden. Unter seinem Namen stand: "Möge Gott ihm seine Sünden vergeben."
Nach allem, was Diana über diesen Mann gehört hatte, konnte sie sich nicht vorstellen, daß ihm Vergebung zuteil geworden war. Er mußte ein schrecklicher Mensch gewesen sein, den nicht nur die Pächter, sondern auch eigene Familie gefürchtet hatte.
Die junge Frau legte einen Strauß blaßgelber Rosen vor der Namenstafel ihres Großonkels nieder. "Ich wünschte, ich hätte dich noch kennenlernen dürfen, Onkel Stewart", sagte sie leise und fuhr mit dem Zeigefinger die Konturen seines Namens nach.
"Ihr Onkel war ein großartiger Mensch."
Erschrocken fuhr die junge Frau herum. Dr. Timothy Lansing stand im Eingang der Grabkapelle. "Ich hätte einen Herzschlag bekommen können", bemerkte sie vorwurfsvoll und fragte sich verwundert, weshalb sie nicht ärgerlicher reagierte. "Aber vermutlich hätten Sie mir dann Ihre Dienste angeboten, Doktor Lansing."
"Selbstredend, Miß Rowland", bestätigte der Tierarzt, "obwohl ich natürlich mehr Erfahrungen mit Vierbeinern habe und Doktor Hunter nicht gerne ins Handwerk pfusche." Er machte einige Schritte auf sie zu. "Bitte, verzeihen Sie mein Eindringen, Miß Rowland, aber ich kann zu meiner Entschuldigung angeben, daß ich noch nie einen Preis im guten Betragen gewonnen habe."
Diana mußte lachen. "Ehrlich sind Sie wenigstens, Doktor Lansing", bemerkte sie.
"Eine meiner hervorragendsten Eigenschaften", meinte er schmunzelnd.
"An Selbstbewußtsein mangelt es Ihnen jedenfalls auch nicht." Diana gestand sich ein, daß sie das Geplänkel mit dem jungen Tierarzt genoß. Er schien genauso sympathisch zu sein wie sie angenommen hatte. Dann wurde ihr jedoch bewußt, wo sie sich befanden und sie schämte sich plötzlich des leichten Tons, den sie angeschlagen hatte.
Dr. Lansing spürte ihren Stimmungswechsel. "Ich möchte Sie nicht stören, Miß Rowland", sagte er.
Weitere Kostenlose Bücher