Geisterstadt
weiter und denkt nicht mehr daran, weil man sich nicht erlaubt, darüber nachzudenken.«
»Aber ich kann nicht damit aufhören.« Kein Wunder, dass Laurens Fingernägel so kurz waren; Chess sah zu, wie sie einen Hautfetzen so heftig mit den Zähnen abriss, dass Blut aus der Wunde quoll und zu einer perfekt geformten roten Träne auf der blassen Haut anwuchs. »Ich muss einfach die ganze Zeit daran denken.«
»Tja, das ist eben einfach so passiert, ich meine ... warum redest du nicht mal mit jemandem darüber, weißt du, vielleicht kann ja dein Vater oder sonst jemand ...«
»Ich dachte, ich würde gerade mit jemandem darüber reden. Mit dir.«
»Aber ich bin nicht... Ich bin nicht so wirklich, ich meine, ich glaube nicht, dass du dich so richtig wohlfühlen würdest, wenn du das ausgerechnet mit mir besprichst, oder?«
Lauren war ein hübsches Mädchen - eine schöne Frau. Aber mit den zusammengebissenen Zähnen, den schmalen Augenschlitzen und der immer noch geschwärzten, fleckigen Haut sali man es ihr im Moment nicht mehr an. Gezackte, bleiche Linien zogen sich von den Augen nach unten. »Eigentlich glaube ich, dass du diejenige bist, die ein Problem damit hat, Cesaria.«
Was zur Hölle wollte sie denn bloß von ihr? So ’ne Art Selbsthilfegruppe, oder wie? Echt motivierende Sinnsprüchlein, die man im Chor bei Kerzenlicht murmelte? Nach so was musste sie sich anderswo umsehen, da gab es genügend Angebote. Chess zündete höchstens dann Kerzen an, wenn das Tageslicht ihr in den von den Drogen geweiteten Pupillen wehtat.
Lauren drängte sich ihr auf. Vielleicht war das ein unfa irer Eindruck, irgendwie nicht solidarisch genug oder so, aber so empfand sie das nun mal: als ob Lauren sie überall mit kleinen, klebrigen Händen betatschen und ihr die Haut in Fetzen reißen würde, um zu sehen, was darunter war.
Und obwohl ihre Kollegin in Tränen aufgelöst war, die ziemlieh echt wirkten, wurde Chess das Gefühl nicht los, dass Lauren sie keine Sekunde aus den Augen ließ und sie wie unter dem Mikroskop betrachtete. Ob das nun daran lag, dass Lauren glaubte, sie hätte ihre Vergangenheit irgendwie ganz toll »bewältigt«, oder daran, dass sie Chess verunsichern wollte, oder einfach nur darum, dass sie letztendlich doch eine gruselige Ziege war, wusste Chess nicht genau, und inzwischen war es ihr auch vollkommen egal. Sie wollte nur noch nach Hause, ihre Wunden versorgen, die verräucherten Klamotten loswerden und sich die Birne zuballern. Nüchternheit ging einfach mal gar nicht mehr.
»Ich hab überhaupt kein Problem damit«, sagte sie. Ein Hustenanfall drohte sich in ihrer Kehle breitzumachen, aber sie unterdrückte ihn. Sie musste keine Schwäche zeigen. »Ich glaube bloß nicht, dass ich dir irgendwie helfen kann. Und ich glaube, dass es Leute gibt, die dafür besser qualifiziert sind als ich. Bei mir ist das schon lange her. Ich kann mich eigentlich nicht mal mehr daran erinnern, ich meine, ich denke im Grunde gar nicht mehr daran. Das ist alles. Ich glaube, wenn du einfach ... du solltest ins Krankenhaus gehen, oder? Die machen dann ihre Tests und vermitteln dich an irgendjemanden. Du weißt doch, wie’s läuft.«
»Genau. Damit alle Kollegen mitkriegen, was passiert ist. Dass ich mich nicht wehren konnte.«
»Da war ein ganzes Dutzend von denen, was hättest du denn ... ?«
»Du hast es geschafft.«
»Bei mir war es nur einer. Einen hättest du sicher auch noch kleingekriegt.«
Das nahm sie jedenfalls an. Sie hatte keine Ahnung, ob sie mit ihrer Vermutung, wie viele Männer Lauren angegriffen hatten, richtiglag, aber Lauren widersprach auch nicht, also machte sie sich darüber keinen Kopf.
»Egal.«
Okay ... war das jetzt genug? Konnte sie jetzt gehen oder ... nein. Verdammt! »Hör mal«, sagte sie und legte Lauren wieder die Hand auf die Schulter. »Du hast doch jetzt zwei Möglichkeiten, oder? Du kannst dich von dieser Sache auffressen lassen, weil es dir zu peinlich ist oder weil du zu viel Angst hast oder was auch immer, um dir Hilfe zu suchen - falls es das ist, was du brauchst -, oder du kannst versuchen, alleine damit fertig zu werden. Und da gibt es kein Patentrezept. Nur weil es für mich funktioniert hat, muss es für dich noch lange nicht richtig sein, und deshalb bin ich da die falsche Adresse für Ratschläge, okay? Sieh einfach zu ... wenn ich du wäre, würde ich ins Krankenhaus fahren. Echt.«
Das war eine dicke, fette Lüge.
»Aber klar, mach, was du für richtig hältst.
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