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Geisterstunde

Geisterstunde

Titel: Geisterstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Cook
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Kapitel
     
    Morpheus stellte meine geheimnisvolle Freundin auf den Kaminsims in meinem Zimmer und betrachtete sie eindringlich. Ich mißverstand sein Interesse. Das passiert mir selten, denn sein Interesse für die weibliche Gattung ist ansonsten unmißverständlich. »Keine Chance, Junge, sie ist vergeben.«
    »Halt die Klappe, setz dich auf deine vier Buchstaben und sieh dir das Bild genau an.«
    Er hätte nicht so scharf reagiert, wenn es nicht wichtig gewesen wäre. Ich gehorchte und sah hin.
    Allmählich schien mich das Bild in sich aufzusaugen.
    Morpheus stand auf, löschte einige Lampen und dämpfte so das Licht im Zimmer. Dann öffnete er die Vorhänge, wohl damit wir in den vollen Genuß des Sturms kamen. Anschließend setzte er sich wieder hin und starrte das Bild an.
    Die Frau erwachte immer mehr zum Leben, bemächtigte sich immer mehr meiner Person. Ich hatte das Gefühl, ihre Hand nehmen und sie aus dem Bild ziehen zu können, weg von dem … Ding, das sie verfolgte.
    Der Sturm intensivierte, was im Hintergrund der Leinwand vor sich ging. Schleicher Bradon war ein wahrer Magier. Betrachtete man das Gemälde eine Zeitlang, wirkte es weit mächtiger als das Bild des Sumpfs mit dem Gehängten, aber auf eine viel subtilere Art.
    Ich konnte fast hören, wie sie um Hilfe flehte.
    »Mist«, murmelte Morpheus schließlich. »Sie ist viel zu intensiv. Wir müssen sie aus dem Bild entfernen.«
    »Was?«
    »Da ist noch was anderes. Aber die Frau lenkt einen davon ab.«
    Ich wußte nicht, wovon er sprach. Der Rest des Bildes war für mich reine Dekoration. Es sei denn, man hätte mit Pfeilen auf das entscheidende Objekt gezeigt.
    Morpheus holte Papier von meinem Schreibtisch und schnitt zehn Minuten lang mit einem kleinen Messer Papierfetzen zurecht, mit denen er die Blonde abdecken konnte. »Wenn du dieses Gemälde kaputtmachst, schneide ich dich genauso in Stücke«, warnte ich ihn. Ich hatte bereits eine genaue Vorstellung, wo es hängen sollte. An der Wand in meinem Büro gab es eine große freie Stelle.
    »Ich würde mir eher selbst den Hals durchschneiden, Garrett. Der Mann mag verrückt gewesen sein, aber er war ein Genie.«
    Seltsam, daß Morpheus ihn verrückt nannte, ohne ihn jemals kennengelernt zu haben.
    Er löschte noch eine Lampe und befestigte seine Papierfetzen auf der Leinwand.
    »Das gibt es doch nicht.« Das Gemälde war fast genauso intensiv ohne die Frau. Aber jetzt konnte der Blick ungehindert schweifen.
    »Hör einfach auf, nachzudenken«, knurrte Morpheus. »Laß es auf dich wirken.«
    Ich versuchte es.
    Draußen tobte der Sturm. Es donnerte, und Blitze zuckten über den Himmel. Blitze warfen zuckende Schatten über die Blitze auf dem Gemälde. Die Schatten schienen sich wie eine Gewitterwolke zu bewegen. »Was ist …?«
    Eine Sekunde war es sichtbar gewesen. Aber ich konnte es nicht mehr wiederfinden. Wahrscheinlich versuchte ich es zu sehr.
    »Hast du das Gesicht gesehen?« fragte Morpheus. »Im Schatten?«
    »Ja. Eine Sekunde lang. Ich kann es nicht mehr zurückholen.«
    »Ich auch nicht.« Er nahm die Papierfetzen weg und setzte sich wieder hin. »Sie läuft vor jemandem weg, nicht vor etwas.«
    »Sie fleht um Hilfe. Glaubst du, daß Bradon sie so gemalt hat, daß sie nach jemand Bestimmten greift?«
    »Meinst du, sie flieht vor jemandem zu jemandem?«
    »Vielleicht.«
    »Zu ihm?«
    »Möglich.« Ich zuckte mit den Schultern.
    »Vielleicht du? Du bist schließlich derjenige, der …«
    »Du hast sie doch auch gesehen.«
    »Ich habe irgendwen gesehen. Wer es war, kann ich nicht genau sagen. Je länger ich das Bild hier anstarre, desto mehr bin ich der Meinung, daß es auch die andere Frau sein könnte.«
    »Jennifer?«
    »Ja. Sie sehen sich sehr ähnlich.«
    Das hatte ich noch gar nicht bemerkt. Ich versuchte, Jennifer in der blonden Frau wiederzuentdecken. »Ich weiß nicht. Jennifer hat eine Menge von Stantnor in sich, und diese hier hat gar nichts davon.«
    Ich muß wohl gekrächzt haben, jedenfalls hatte Morpheus nichts verstanden. »Was?«
    »Dieses Gesicht im Hintergrund. Es hatte viel von Stantnor.«
    »Jennifer? Bradon hat ihr übel mitgespielt.«
    »Das glaube ich nicht. Ich habe den Eindruck, daß es ein männliches Gesicht war.«
    »Etwa dreißig und außer sich vor Wut.«
    Draußen tobten sich die Blitze aus. Ich sprang auf und machte die Öllampen an. Ich konnte die Kälte nicht vertreiben. »Mir ist unheimlich«, gestand ich.
    »Ja. Je mehr ich es ansehe, desto

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