Geisterzorn: Der Fluch von Lost Haven (German Edition)
darüber an einem beweglichen Arm befestigt war ein großer Flachbildschirm, der die gedruckten Worte in variabler Einstellung vergrößert darstellte. Dies war eines der besseren Geräte, so dass es sehr teuer war. Mr. Beaver hätte es sich selbst kaum leisten können, dafür gab sein geliebter Buchladen viel zu wenig her. Und auch wenn er das Geld gehabt hätte, hätte er es niemals für sich ausgegeben, sondern nur für seine Tochter Melissa.
Sie war es, die das Lesegerät letztlich gekauft hatte, nachdem sie mit meiner bescheidenen Unterstützung einen 'anonymen Spendenaufruf' gestartet hatte, der zu meiner und ihrer Überraschung derart positiv aufgenommen wurde, dass das Geld schnell zusammen kam.
»Ah, Mr. Rafton. Wie geht es Ihnen heute?«, begrüßte mich Mr. Beaver. Er erkannte mich immer anhand meiner Schritte. Nach dem Befinden fragte er mich immer, sobald ich den Laden betrat. Wenn man so eine Frage stellt, erwartet man wohl kaum eine ehrliche Antwort. 'Zum Kotzen' kann man ja schlecht erwidern. Stattdessen bleib ich höflich: »Alles bestens, Mr. Beaver. Darf ich fragen, welche Lektüre Sie heute am Wickel haben?«
Mr. Beaver schmunzelte leicht und blickte wieder auf seinen großen Bildschirm. »Ein altes Märchen, Mr. Rafton. Nur ein altes Märchen.«
Er starrte einige schweigsame Sekunden auf den Bildschirm. »Melissa ist gleich bei Ihnen«, fügte er regungslos hinzu. Melissa war im Hinterzimmer, das vornehmlich als Lager diente, beschäftigt. Sie war siebzehn. Nicht nur ich war der Meinung, dass sie viel zu viel Zeit dort verbrachte. Andere junge Frauen in ihrem Alter hatten wohl ganz andere Dinge im Kopf als alte verstaubte Bücher, und Melissa selbst war kein Bücherwurm. Sie konnte schlicht ihren Vater nicht allein lassen. Sie glaubte, er würde ohne sie nicht zurechtkommen, obwohl ich der Meinung war, dass Henry Beaver durchaus sehr eigenständig leben konnte, trotz seiner Sehbehinderung. Melissa jedoch liebte ihren Vater viel zu sehr, als dass sie ihn verlassen würde. Lost Haven war kein Ort für so junge Menschen wie sie, wenn man kein Tourist war. Mr. Beaver sah das ähnlich wie ich, aber er hatte nicht die Kraft, seine Tochter davon zu überzeugen, ihn zu verlassen. Er war in eine melancholische Starre verfallen, die er zwar versuchte sich nicht anmerken zu lassen, die aber dennoch greifbar war, sobald man ihn sah.
Ich genoss für einige Sekunden die absolute Stille dieses Ortes, bis Melissa schließlich an die Verkaufstheke herangeschwebt kam. Und wenn ich schweben sage, dann meine ich schweben. Müsste ich mir ein Synonym für Jugend ausdenken, würde mir als erstes Melissa Beaver einfallen. Sie war eine grazile und gewitzte Persönlichkeit. Eine brünette Schönheit. Ihrem Lächeln konnten selbst die grimmigsten Herzen nicht widerstehen.
Wäre ich in ihrem Alter, hätte ich wohl alles getan, um ihr Freund zu werden. Aber wenn ich aus diesem Tagtraum erwachte und sie dabei ansah, fühlte ich mich mit meinen 44 Jahren einfach nur alt. Und deprimiert.
»Hallo Mr. Rafton«, sagte sie und strahlte mich dabei an, dass es schon fast weh tat.
Für sie war ich nicht irgendein Kunde. Melissa kannte jedes Detail meiner Karriere als Schriftsteller und hatte nach eigenen Angaben alle meine Romane gelesen. Ich war für sie ein Tor zu einer Welt von Kreativität und Erschaffung. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mich ob ihrer Bewunderung nicht geschmeichelt fühlte. Und dennoch: Es war eine Ironie, denn diese Welt, nach der sie sich so sehnte, war für mich nur noch eine blasse Erinnerung, die in immer weitere Ferne rückte. Und im Übrigen eine Welt, an der ich seit Jahren keinen Gedanken mehr verschwendete.
»Ihr Buch ist heute Morgen gekommen. Mr. Fryman wird sich sicher sehr freuen. Soll ich es für sie einpacken?«, fragte Melissa.
»Ja, das wäre toll. Ich kann so was nicht«, sagte ich und lächelte.
Sorgfältig und mit geübter Hand packte Melissa das Buch für Peter ein. Sie hatte deshalb darin viel Übung, weil die meisten Besucher von Beaver’s Books Touristen waren, die sich irgendein Buch als Geschenk für Freunde und Verwandte kauften. Diese Touristen warten für Beaver’s Books eine wichtige Einnahmequelle. Es gab auch eine entsprechende Empfehlung in diversen Reiseführen, ohne die Beaver’s Books wohl nicht mehr existieren würde.
Obwohl Melissa sicherlich schon abertausend Mal Bücher verpackt hatte, ließ sie sich bei diesem ungewöhnlich viel
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